Der Beitrag untersucht eine neu erschienene "Verteidigung des Pazifismus" (in Buchform) mit dem Ziel, die Tragfähigkeit der Argumente eines pragmatischen und verantwortungsethischen Pazifismus zu ergründen. Dabei wird die These des Autors Olaf Müller beleuchtet, dass diese Argumente hinreichen, um im Kontext des Krieges Russlands gegen die Ukraine philosophisch begründete Einwände gegen eine starke militärische Unterstützung der Ukraine zu formulieren. Die Antwort lautet: "Tendenziell nein". Das Schicksal der Menschheit spricht für eine starke militärische Unterstützung im Rahmen der UN-Charta und des Völkerrechts. Auch die sehr gehaltvollen Ausführungen von Müller reichen nicht aus, um einem bestimmten Verständnis von Pazifismus Vorrang einzuräumen.
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Der Artikel wurde im November 24 leicht überarbeitet und erschien hier erstmals zum ersten Jahrestag des Krieges.
1. Der Ausgangspunkt: der 24.2.2022
Die widerwärtige Aggression gegen die Ukraine liegt bald drei Jahr zurück. Es verging eine beträchtliche Zeitspanne, bis sich in den westlichen Demokratien die Erkenntnis durchsetzte, nicht nur deklamatorisch "an der Seite" der Ukraine zu stehen, sondern auch die militärische Hilfe zu organisieren und zu leisten, die dem angegriffenen Staat nach der UN-Charta und dem Völkerrecht zusteht. Diese Hilfe, die seitens des demokratischen Westens geleistet werden sollte, stand von Anfang an – und zu diesem Zeitpunkt war noch nicht von schweren Panzern oder Taurus die Rede – unter dem Verdacht, das Ende der Menschheit, wie wir sie kennen, einzuläuten. Denn von Anfang an wurde dem Westen mit der nuklearen Schlagkraft Russlands gedroht. In der Tat hatte und hat dieser "Hinweis", dass es einen Weg "in die Apokalypse" geben könnte, nur den Zweck, dass die Angst und damit die Ängstlichen in den Demokratien die Oberhand gewinnen. Allerdings stellt sich die Frage, ob Angst in diesen Zeiten ein guter Ratgeber ist.
2. Exkurs: Orientierung finden unmittelbar nach Beginn des Angriffskrieges
Zu Beginn des Krieges schien eine Orientierung an den Empfehlungen von Bertrand Russell (siehe unten, 3A) zunächst vielversprechend. Diese besagen, dass es im Interesse der Verringerung von Opferzahlen und Zerstörungen ratsam wäre, möglichst keinen militärischen Widerstand zu leisten. Dadurch könnten zahlreiche Menschenleben gerettet werden. Obschon mir bewusst war, dass der Krieg "irgendwie", d. h. mit der Annexion der Krim und den Kämpfen im Donbass, bereits im Jahre 2014 begonnen hatte und obschon mir bekannt war, dass in den folgenden acht Jahren niemand die ukrainische Bevölkerung zum passiven Widerstand ausgebildet hatte, glaubte ich, mit der Erinnerung an diese Option den bellizistischen Falken etwas entgegensetzen zu können. In einer weniger konsequenten Denkweise räumte ich ein: Sollte der Aggressor jedoch weiterhin mit "unnötiger Gewalt" vorgehen, ist es den Angegriffenen selbstverständlich erlaubt, sich dieser Gewalt mit Gegengewalt zu erwehren. Diese Position, die von einer gesinnungsethischen Reinheit geprägt ist, muss jedoch in ihrer Klarheit relativiert werden. Zudem wurde der Umstand, dass der Krieg vom Aggressor bald mit brutaler Gewalt und täglichen Kriegsverbrechen auch gegen die Zivilbevölkerung geführt werden würde, nicht hinreichend klar antizipiert.
3. Das kluge Büchlein "Pazifismus. Eine Verteidigung" von Olaf Müller
Der Philosoph Olaf Müller hat ein sehr kluges Büchlein verfasst. Eine vollständige Wiedergabe ist an dieser Stelle nicht möglich; im Folgenden werden zunächst die wesentlichen Aspekte zusammengetragen.
A. In der Tat konnte ich eine gewisse Affinität zu Bertrand Russell feststellen. Im Folgenden wird der Originaltext von Bertrand Russell präsentiert: "In den meisten Streitfällen zwischen zivilisierten Nationen ist sowohl die Gewalt als auch der gewaltsame Widerstand schädlich, wenn auch nicht im gleichen Ausmaß. Eine Nation, die einer Gewalt lediglich durch passiven Widerstand begegnet, trägt mehr dazu bei, die Anwendung von Gewalt in den internationalen Beziehungen zu vermindern, als jede andere Nation dies könnte, indem sie Gewalt mit Gegengewalt beantwortet (vgl. Bertrand Russell, Die Philosophie des Pazifismus, 1915). Müller führt weiter aus, dass Russell gemeinsam mit Einstein im Zweiten Weltkrieg für einen Befreiungskrieg der Alliierten eintrat. Dies begründete sich darin, dass das Vorgehen der Nationalsozialisten als Zivilisationsbruch gewertet wurde, wodurch eine Ausnahme vom Pazifismus gerechtfertigt erschien.
B. Diese Fähigkeit, eine Ausnahme von von der Regel einzusehen, hält Müller für so bemerkenswert, dass er Russell zusammen mit Einstein zu verantwortungsethischen Pazifisten erklärt. Müller erweitert die eigene Position mit "pragmatisch", er nennt sich einen pragmatischen verantwortungsethischen Pazifisten. Man kann aus dem Büchlein eine Art Hufeisenthese (wie bei der Extremisten- oder Totalitarismusthese) herauslesen; demnach existieren zwei entgegengesetzte starke Positionen, die sich in einem Punkt zusammenfinden, sie nehmen keine Rücksicht auf die Folgen des Tun, das meint ja "der Gesinnung nach".
Müller schreibt: "Ein plausibler Pazifismus darf weder maßlos noch unverhältnismäßig werden; man sollte ihn nicht um jeden Preis hochhalten. Zieht seine strikte, rigorose Befolgung viel zu schlimme Konsequenzen nach sich, dann muss man sich dem Verbot kriegerischer Handlungen entziehen. Wenn dem so ist, ergibt sich daraus freilich eine Folgerung, die gerade in unseren Tagen nicht jedem eifrigen Kritiker der pazifistischen Gesinnungsethik schmecken wird. Und zwar erstreckt sich die Überlegung auf alle Formen des gesinnungsethischen Umgangs mit Krieg – also auch auf die gesinnungsethische Befürwortung von Krieg, insbesondere auf das, was ich gesinnungsethischen Verteidigungsbellizismus nennen möchte. Der besagt Folgendes: Wer Opfer eines unrechtmäßigen, verbrecherischen Angriffskriegs wird, der darf sich – koste es, was es wolle – mit allen militärischen Mitteln gegen den Angreifer zur Wehr setzen; Angriffskrieger dürfen und müssen um jeden Preis gestoppt werden. Und wenn dies den Weltuntergang per Atomkrieg mit sich bringt, »dann soll es halt so sein!«" (Müller 2022, Pazifismus, S. 26-27. Kindle-Version).
C. Müller ist sich der Schwierigkeiten, die mit einer Folgenabschätzung einhergehen, durchaus bewusst. Dennoch präsentiert er ein "Bild" von Waagschalen, in dem er postuliert, dass wir gemäß der verantwortungsethischen Forderung alles Übel, das aus der Beteiligung an dem fraglichen Krieg für sämtliche von ihm betroffenen Menschen resultiert, auf die eine Waagschale legen müssen. Auf die andere Waagschale legen wir demnach alles Übel bei einem Kriegsverzicht. Erst wenn sich die Waage eindeutig auf der Seite des Kriegsverzichts neigt, weil dessen Übel schwerer wiegen, ist der Eintritt in den Krieg moralisch erlaubt und möglicherweise sogar geboten. Alternativ lässt sich das Kriterium (unter Berücksichtigung der pragmatistischen Überlegungen aus dem dritten Abschnitt) als Tendenzaussage formulieren: Die Akzeptabilität eines Krieges ist umso höher, je deutlicher sich die Waagschale der Übel bei einem Verzicht auf den Krieg im Vergleich zu den Kriegsübeln nach unten neigt. (vgl. Müller 2022, Pazifismus, S. 34, Kindle-Version)
D. Müller entwickelt eine Strategie zum Umgang mit Krieg, die auf kontrafaktischen Wenn-dann-Sätzen basiert. Anhand des Beispiels des Kosovokrieges erfolgt eine exemplarische Darlegung. Welchen Wert besitzt der folgende Satz? "Wären keine NATO-Bomben auf Ziele im Kosovo und in Serbien abgeworfen worden, hätte dies eine höhere Anzahl an Todesopfern, Verletzten und Vertriebenen unter den Kosovo-Albanern und Serben zur Folge gehabt"? (Müller, 2022, Pazifismus, S. 67, Kindle-Ausgabe).
Müller vertritt in diesem Kontext eine pessimistische These, nämlich, "dass wir im Allgemeinen über kontrafaktische Sätze zum Thema Krieg und Frieden nicht mit derselben Objektivität befinden können wie im Fall einfacherer Sätze". Gleichzeitig postuliert er eine optimistische These, dass wir uns dennoch ein fundiertes Urteil über die Wahrheit oder Falschheit solcher Sätze bilden können (Müller 2022, Pazifismus, S. 45, Kindle-Version).
E. Anhand des Beispiels des Kosovo demonstriert Müller, welche Handlungsoption aus der Perspektive eines pragmatischen, verantwortungsethischen Pazifisten im Westen hätte gewählt werden sollen: die Förderung friedlicher Streitbeilegung. Pazifisten werden in der Praxis nahezu ausnahmslos erst nach dem Vorliegen gewaltsamer Konflikte um ihre friedliebenden Gegenvorschläge gebeten. Dabei erwidern sie, dass Friedensarbeit früher ansetzen muss als kurz vor Ausbruch massiver Gewalt.
In diesem Sinne lässt sich annehmen, dass bereits im Jahr 2014, nach der völkerrechtswidrigen Annexion der ukrainischen Krim durch Russland, die meisten Bürger aus den verbliebenen Regionen der Ukraine einen effektiven gewaltfreien Widerstand hätten einüben können, der eine klare Botschaft an Russland gesendet hätte. In der ukrainischen Bevölkerung gibt es einen überwältigenden Teil, der zum ukrainischen Staat steht und sich gegen eine Fremdbestimmung aus Moskau mit allen Mitteln des zivilen Ungehorsams widersetzen wird. Diese Bevölkerungsgruppe umfasst Millionen von Menschen. "Die offenkundige Fehleinschätzung der Stimmung in der Ukraine durch Putin hätte sich auf diese Weise möglicherweise im Vorfeld abfangen lassen." (Müller 2022, Pazifismus, S. 73, Kindle-Version). Diese Argumentation Müllers ist durchaus nachvollziehbar. Er postuliert, dass die Welt und die Menschen noch immer in archaischen Strukturen gefangen sind, was die Durchführbarkeit gewaltfreier Widerstandsaktionen derzeit noch einschränkt. Gleichzeitig sieht er die Notwendigkeit, in allen Teilen der Welt, in denen dies bereits möglich ist, Formen des gewaltfreien Widerstands zu lehren und zu erproben.
F. Welcher Schluss wird in Müllers Buch gezogen? Einerseits demonstriert er einen unerschütterlichen Glauben an das Gute im Menschen und erörtert, dass es valide Gründe für einen solchen Ansatz gibt. Auch die Naturwissenschaften, die ebenfalls als Kulturwissenschaften bezeichnet werden können, haben sich Prinzipien wie "Einfachheit" und "Schönheit" zu eigen gemacht. Müller führt hierzu aus: "Zugegeben, der Glaube an das Gute im Menschen ist ein Ideal, aber darin nicht anders als der Glaube an die Schönheit des Kosmos, der unsere Physik so sehr beflügelt hat." In Bezug auf Krieg – und somit mit Blick auf die Menschheit selbst – befindet sich diese an einem ähnlichen Ausgangspunkt wie ganz am Anfang der neuzeitlichen Physik mit Blick auf den Kosmos. Zu dieser Zeit, in der Mitte des vorigen Jahrtausends, wagten die Physiker mit ihren revolutionären Leitprinzipien einen vertrauensvollen Sprung. Die im Sprung ausprobierten Werte waren hochkontrovers; beinahe erschienen sie zu idealistisch, um wahr zu sein. Die physikalischen Erfolge dieser Prinzipien und Leitwerte sind jedoch unbestritten und werden von vielen Forschern respektiert. Dies lässt die Hoffnung zu, dass auch die Werte und Leitprinzipien der Pazifisten eines Tages eine breitere Anerkennung finden werden, als dies gegenwärtig der Fall ist. Es wäre an der Zeit, diese endlich einmal in die Praxis umzusetzen. Es stellt sich somit die Frage, weshalb ein baldiger Einsatz nicht erfolgen sollte. Seit Jahrtausenden wird von einigen versprengten Idealisten die Idee vorgebracht, mit Krieg schon im Denken radikal Schluss zu machen. Seit Jahrtausenden jedoch traut man sich nicht, diesen Ideen zu folgen (Müller 2022, Pazifismus, S. 87, Kindle-Version). Diesbezüglich hat Müller einen wichtigen Punkt angesprochen. Friedenserziehung ist in Gegenwart und Zukunft daher mindestens genau so zwingend notwendig wie, nun ja, Physik-Unterricht.
G. In fünf kurzen Unterkapiteln thematisiert Müller schließlich seine Angst. Ein Krieg könnte sich heute zu einem unüberschaubaren und unkontrollierbaren Chaos entwickeln. "Wer die Angst vor einem Atomkrieg, der durch Waffenlieferungen ausgelöst werden könnte, als nicht sonderlich hoch einschätzt, gibt sich dadurch nicht als Realist zu erkennen, sondern als Verächter eines bestimmten Wertsystems. Auch er benötigt gewisse Werte, um seine Haltung zu stabilisieren. Dabei schätzt er die Bedeutung von Risiko und Tatkraft höher ein als die von Vorsicht und Sorge. An dieser Stelle sei angemerkt, dass diese Kontroverse keineswegs unentschieden ausgegangen ist. Im Gegenteil, wie im Folgenden dargelegt wird, erweist sich die ängstlichere, vorsichtigere Haltung des Pazifisten insgesamt als attraktiver (Müller 2022, Pazifismus, S. 94, Kindle-Version).
H. Bis zu dem Punkt, an dem auch ich – auch als Historiker – die Werte "Vorsicht und Sorge" höher einschätze als "Risiko und Tatkraft", stimme ich der Argumentation Müllers zu. Ich möchte zudem betonen, dass ich der Auffassung von Müller im Unterkapitel "Inferno" zustimme, in dem er auf die potenzielle Gefahr eines zufällig ausgelösten Atomkriegs aufmerksam macht. An dieser Stelle muss jedoch eine kritische Distanz gewahrt werden, insbesondere im Hinblick auf die folgende Ausführung "In der Tat wächst die Gesamtwahrscheinlichkeit dafür mit jedem einzelnen bevorstehenden Tag, an dem eine nervöse Atommacht kriegerische Schläge auf ihre Truppen und Ausrüstung hinnehmen muss (und auch diese Gefahr schert sich nicht um den feinen Unterschied zwischen Angriffs- und Verteidigungskrieg). Wer den Pazifisten hierin widerspricht, gibt sich dadurch als Anhänger anderer Werte zu erkennen" (Müller 2022, Pazifismus, S. 95-96, Kindle-Version).
3. Was tun mit dem behutsamen Vorgehen von Müller und seinem Ergebnis?
Das Ende des Buches kann nicht als Kapitulation bezeichnet werden. Es zeugt von Charakterstärke, wenn jemand vor der Öffentlichkeit seine Schwäche und Schuld eingesteht. Das Resultat Müllers entspricht dem gesinnungsethischen Pazifismus: Die Ukraine wird sich selbst überlassen, während man zu seiner Schuld steht, die damit auf sich geladen wird.
Laut eigener Aussage hat Müller im Unterkapitel 28 von "Panik" auf eine berechtigte Angst vor einem Atomkrieg zu entwickelt. Müller schließt sein Buch mit dieser Erkenntnis. Es wäre jedoch verfehlt, sich mit dieser Feststellung zu begnügen. Es ist von entscheidender Bedeutung, die wesentlichen Unterschiede zwischen den beiden Positionen aufzuzeigen. In einer rationalen Welt existieren Atomwaffen lediglich als Instrument der Abschreckung, nicht als tatsächliche Bedrohung. Dies impliziert die Notwendigkeit, diese Waffengattung aus der Gleichung herauszunehmen. Die Möglichkeit eines Atomkriegs bleibt jedoch bestehen, da die Verkettung unglücklicher, chaotischer und daher zufälliger Ereignisketten nicht ausgeschlossen werden kann. Diese zufällige Auslösung ist jedoch nicht mit dem Führen eines konventionellen Krieges vergleichbar.
Notabene: Die Abfassung dieser Zeilen ist mit einem hohen Maß an Anstrengung verbunden, da sie dem Gegenteil dessen entspricht, sich seinen Ängsten oder Neigungen hinzugeben. Es handelt sich um den Versuch, sich diesen zu stellen und ihnen eine rational reflektierte Position gegenüberzustellen.
4. Die Lösung mit Hannah Arendt und dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland
In diesem Kontext erlangt eine andere Fragestellung an Bedeutung. Der Versuch einer Formulierung sieht wie folgt aus: Es steht die Frage im Raum, welche Relevanz den Aussagen der Falken und Bellizisten (im Kontext des Verteidigungskrieges der Ukraine) beizumessen ist. In diesem Zusammenhang stellt sich insbesondere die Frage nach dem Grundargument. Beginnen wir mit der zweiten Frage. Eine mögliche Neuordnung des Grundarguments könnte wie folgt aussehen: Die russische Föderation hat sich vor dem Krieg in eine Diktatur verwandelt und befindet sich gegenwärtig in einer Phase der Transformation hin zu einer despotischen Diktatur. Der ukrainische Verteidigungskrieg kann als ein Akt der Selbstverteidigung gegen die Barbarei bezeichnet werden. Sollte es nicht gelingen, die Barbarei dort zu stoppen, wo sie 2022 auszubrechen drohte, sind letztlich alle Freiheiten, die in westlichen Gesellschaften existieren, in Gefahr. Aus diesem Grund ist es gemäß der Charta der Vereinten Nationen geboten, das angegriffene Land mit allen erforderlichen Mitteln zu unterstützen. Die entscheidende Grenze ist die direkte Beteiligung der Lieferanten am Krieg. Die Definition dieser Grenze liegt bei den Verteidigern und ihren Unterstützern, nicht bei den Aggressoren.
In Anbetracht der jüngsten Entwicklungen sehen sich die Befürworter einer militärischen Intervention mit zwei wesentlichen Fragestellungen konfrontiert. Erstens, ist es nicht bereits an der Zeit, dass die freie Menschheit für ihre Werte einsteht? Dies wirft die Frage auf, ob es nicht erforderlich ist, gewisse Risiken einzugehen, um die Verteidigung dieser Werte zu gewährleisten.
Die Beantwortung beider Fragen mit "Ja" lässt sich anhand von Hannah Arendts Reflexionen über Lager, Tod und Vernichtung der europäischen Juden begründen. Jedoch enthalten auch die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen sowie das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland relevante Aussagen. Das Grundgesetz richtet sich dabei unmissverständlich gegen die Organisatoren der "Friedensdemonstration" in Berlin am 25. Februar 2023 sowie ähnlicher Demonstrationen in der Folgezeit.
Zunächst Hannah Arendt: In einer ihren vielen Kolumnen, die sie in New York während des Krieges verfasste, gibt es mindestens eine, gleich hier zitierte, heroische und vielleicht in ihrer Radikalität irritierende Aussage. Arendt schreibt: "Es war einmal eine glückliche Zeit, als Menschen frei wählen konnten: Lieber tot als Sklav', lieber stehend sterben, als auf den Knien leben. Und es war einmal eine verruchte Zeit, als schwachsinnig gewordene Intellektuelle erklärten, das Leben sei der Güter höchstes. Gekommen ist heute die furchtbare Zeit, in der jeden Tag bewiesen wird, daß der Tod seine Schreckensherrschaft genau dann beginnt, wenn das Leben das höchste Gut geworden ist; daß der, der es vorzieht, auf den Knien zu leben, auf Knien stirbt; daß niemand leichter zu morden ist als ein Sklave. Wir Lebenden haben zu lernen, daß man auf den Knien noch nicht einmal leben kann, daß man nicht unsterblich wird, wenn man dem Leben nachjagt, und daß, wenn man für nichts mehr sterben will, man stirbt, obwohl man nichts getan hat". (Arendt 2019, Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher, hier: Keinen Kaddisch wird man sagen, vom 19.6.1942, Hervorhebung im Original).
So kann man aus heroischen Zeiten lernen, dass nicht "das Leben" der höchste Wert ist, sondern dass es für Menschen Werte bedarf, für die es sich zu leben lohnt. Ähnlich wie die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen, die von einem Komitee unter dem Vorsitz von Elenea Roosevelt erarbeitet wurde, haben die Väter und wenigen Mütter des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland formuliert. Gemeinsam ist ihnen, dass der erste Artikel nicht "dem Leben" gewidmet ist (es folgt in Artikel 3 (UN) bzw. 2.2 (GG)), sondern der einzigartigen Würde des Menschen. Das ist die Lehre des 20. Jahrhunderts, die manche vergessen zu haben scheinen: Vor der Vernichtung des Lebens stand die Vernichtung der Person. Zuerst wurde dem Leben die Würde genommen, das einzigartige und unverrechenbare Gut, das dem Menschen gegeben ist. Als es genommen war, konnte man die Menschen in den Lagern vernichten. Weil sie schon auf den Knien lebten, starben sie, schrieb Arendt, und das war ihre Kritik an jüdischer Politik und jüdischem Selbstverständnis.
5. Schluss
Eine neue Orientierung: Der Krieg hat also auch eine Zäsur für die Orientierungsfunktion philosophischer Theorien gebracht. Auch der von Müller favorisierte pragmatische und verantwortungsethische Pazifismus reicht 2023 als Orientierung nicht mehr aus. Die Befriedung Europas, die bereits durch die Nachfolgekriege auf dem Balkan Risse bekommen hatte und nun durch den Angriffskrieg Russlands eine Zäsur erfährt, hatte die Menschen in ein postheroisches Wohlstandsmodell als Versicherung gegen alle Lebensrisiken eingespannt. Die Mittel-, West- und Südeuropäer lernen gerade wieder, dass es Werte gibt, für die man zumindest "etwas" riskieren muss. Bislang riskiert der gemeine EU-Bürger nur Wohlstandsverluste, wie es die Bundesregierung unmittelbar nach Kriegsausbruch - insbesondere der Wirtschaftsminister - kommuniziert hat. Heute wissen wir: Das ist das Mindeste.
6. Literatur
- Hannah Arendt (2019): Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher; darin: Keinen Kaddisch wird man sagen, vom 19.6.1942
- Olaf Müller (2022): Pazifismus. Eine Verteidigung.
- Bertrand Russell (1915): Die Philosophie des Pazifismus.