Kleiner Tipp vorab: Bei dem Text handelt sich um ein Gespräch, hier liegt also ein Dialog vor, in dem die zweite Person i.d.R. kurze Bestätigungen des Vorhergesagten abgibt, - sie ist durch die Gedankenstriche gekennzeichnet. Die Person heißt Glaukon. Um die Intention des Textes zu erschließen, muss man mehr als den ersten Absatz lesen! Beachtet bitte die Hinweise unter dem Text. Danke.
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Mein Vorschlag wäre nunmehr, sprach ich, unsere Natur in Bezug auf Bildung und Unbildung mit folgendem Zustande zu vergleichen. Sieh nämlich Menschen wie sie in ihrem Alltag umherhuschen, die auf einen mit Licht erfüllten Gegenstand blicken, den sie Handy nennen. In diesem Zustande sind sie nun wie quasi gefesselt an ihren Gegenstand, so dass sie immer auf den gleichen Fleck starren und leicht nach vorne unten hinsehen. So sind Sie ihres Vermögens beraubt, den Kopf zu drehen, zu heben und von dem Licht zu lassen. Das Licht in ihrem Handy haben sie von einer Batterie, um deren Zustand ihre Sorge gilt. Wie farbige Schatten huschen die Bilder über ihre Geräte als seien sie von Gauklern erfunden, die allerlei Kunststücke zeigen. – Ich sehe, sagte er. – Auf den Geräten mit den vielen bunten Bildern laufen seltsame Gestalten hin und her, manche Bilder reden dabei, andere schweigen. – Ein gar wunderliches Bild, sprach er, stellst du dar und wunderlich Gefangene an Ihren Geräten. – Uns ganz ähnliche, entgegnete ich. Denn zuerst, meinst du wohl, dass dergleichen Menschen von sich selbst und voneinander je etwas anderen gesehen haben als die bunten Schatten, welche die Geräte ihnen auf die Iris schicken? – Wie sollten sie, sprach er, wenn sie gezwungen sind, zeitlebens den Kopf zu senken und den Bildschirm anzuschauen? – Und von dem, aus dem Geräte Erscheinenden nicht eben dieses? – Was sonst? – Wenn sie nun miteinander reden könnten, glaubst du nicht, dass sie auch pflegen würden, dieses Vorhandene zu benennen, was sie sähen? – Notwendig. – Und wie, wenn ihr starrer Blick gekoppelt z.B. mit einem Kopfhörer sie auf die Geräte schauen lässt, meinst du, wenn einer der Vorübergehenden spräche, sie würden denken, etwas anderes rede als der eben auf ihrem Bildschirm erscheinende Schatten? – Nein, beim Zeus, sagte er. – Auf keine Weise also können diese irgend etwas anderes für das Wahre halten als die bunten Bilder jener künstlichen Geräte? – Ganz unmöglich. –
Nun betrachte auch, sprach ich, die Lösung und Heilung von ihren Banden und ihrem Unverstande, wie es damit natürlich stehen würde, wenn ihnen folgendes begegnete. Wenn einer entfesselt von seinem starren Blick wäre und gezwungen würde, sogleich den Hals herumzudrehen, zu gehen und jenseits von face swap(1) u.a. durch das Licht hindurch zu sehen, indem er das täte, immer Schmerzen hätte und wegen des flimmerndes Glanzes nicht recht vermöchte, jene Dinge zu erkennen, wovon er vorher die Schatten sah: was, meinst du wohl, würde er sagen, wenn ihm einer versicherte, damals habe er lauter Nichtiges gesehen, jetzt aber, dem Seienden näher und zu dem mehr Seienden gewendet, sähe er richtiger, und, ihm jede echte Möglichkeit mit seinem Geräte zeigte, das ihn in die Kultur der Digitalität führte, ihn fragte und zu antworten zwänge, was es sei? Meinst du nicht er werde ganz verwirrt sein und glauben, was er hörte über Gefahren digitaler Bildung, sei doch wirklicher als was ihm jetzt gezeigt werde? – Bei weitem, antwortete er. –
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Wenn man ihn gar durch das bunte Flimmern seines Bildschirms hindurch auf die Vielfalt der Kultur der Digitalität zu blicken nötigte, würden ihm wohl die Augen schmerzen, und er würde fliehen und zu jenem zurückkehren, was er anzusehen imstande ist, fest überzeugt, dies sei in der Tat deutlicher als das zuletzt Gezeigte? – Allerdings – Und, sprach ich, wenn ihn einer mit Gewalt von dem Gerät, das die Fähigkeit zur kognitiv-gekoppelten Erweiterung seines Geistes in sich trägt, entferne, hätte er nicht furchtbare Schmerzen, dass ihm das Gerät abhanden gekommen ist und ließe ihn das nicht hektisch alle Taschen am Leibe abklopfen, um es zu finden? Und wenn er nun doch bis zur Kultur der Digitalität geführt würde, und all die hellen Bildschirme würden leuchten und die Möglichkeiten der Gemeinschaftlichkeit, der Referenzialität und der Algorithmizität aufscheinen und seine Augen voll Strahlen wären, wird er nicht das Geringste sehen können von dem, was ihm nun für das Wahre gegeben wird. – Freilich nicht, sagte er, wenigstens nicht sogleich. – Gewöhnung also, meine ich, wird er nötig haben, um das Neue zu erkennen. Und zuerst würde er die bunten Bilder auf dem Gerät selbst in neuem Licht sehen, hernach immer mehr Funktion der Geräte selbst, und nachher erst die ungeheuren Möglichkeiten des Supercomputers im Taschenformat. Und dann würde er im Nachtmodus zunächst die Sterne entdecken und später am Tage im Gegenlichtmodus das Licht der Sonne und die Sonne selbst. – Wie sollte er nicht! – Zuletzt aber denke ich, wird er durch die - durch die Kraft der Sonne ermöglichte - Elektrizität und die damit einhergehende Elektronifizierung aller digital vorliegender Daten und damit durch Digitalisierung einen revolutionären Paradigmenwechsel erkennen. – Notwendig, sagte er. – Und dann wird er schon herausbringen von ihr, der Digitalisierung, dass sie es ist, die alle Kultur auf den Kopf stellt, alles neu ordnet in dem sichtbaren und durch Algorithmen auch in dem bisher unsichtbaren Bereiche von Gesellschaft und von alle dem, was sie dort sahen, die Ursache ist. – Offenbar, sagte er, würde er nach jenem auch hierzu kommen. – Und wie, wenn er nun seines ersten Zugangs mit den multimedialen, multifunktionalen Geräten gedenkt und der dortigen Weisheit und den damaligen Mitgefangenen (z.B. bei Gesichtsbuch), meinst du nicht, er werde sich selbst glücklich preisen über die Veränderung, jene aber beklagen? – Ganz gewiss. – Und wenn sie dort unter sich Ehre, Lob und Belohnungen für den bestimmt hatten, der das Vorüberziehende am schärfsten sah und am besten behielt (so in der Kultur der Oralität), was zuerst zu kommen pflegte und was zuletzt und was zugleich, und daher also am besten vorhersagen konnte, was nun erscheinen werde: glaubst du, es werde ihn danach noch groß verlangen und er werde die bei jenen Geehrten und Machthabenden beneiden? Oder wird ihm das Buchdruckzeitalter mit dem Gutenberg-Paradigma einholen und er viel lieber nicht-vernetzte Texte lesen und produzieren wollen und lieber alles über sich ergehen lassen, als wieder solche Vorstellungen zu haben wie dort zu lernen, zu arbeiten und zu leben möglich ist? – So, sagte er, denke ich, wird er sich alles eher gefallen lassen, als so zu leben. –
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Auch das bedenke noch, sprach ich. Wenn ein solcher nun wieder den vernetzten Supercomputer in seiner Hosentasche erneut nur als Instrument zur Zerstreuung mit lustigen Katzenvideos u.ä. betrachten würde: würden ihn die Augen nicht ganz voll Dunkelheit sein, da er so sich plötzlich von der Kultur der Digitalität abgewendet hat? – Ganz gewiss. – Und wenn er wieder in der Begutachtung jener farbigen Schatten auf dem Bildschirm wetteifern sollte mit denen, die immer auf dieser Ebene stehen geblieben sind, während ihn noch immer die Erkenntnis der Digitalisierung und die Welt der Digitalität vor Augen flimmert, würde man ihn nicht auslachen und von ihm sagen, er sei mit verdorbenen Augen zurückgekommen, weil er den Blick viel tiefer auf die Möglichkeiten des Gerätes gerichtet habe, und es lohne nicht, dass man auch nur versuche den selben tiefen Einblick zu gewinnen; sondern man müsse jeden, der vor einem vertieften Blick in die Geräte stehe, das Gerät wegnehmen und es ausschalten; nur im ausgeschalteten Zustand würden die Geräte kein Unheil über die Nutzer bringen. – So sprächen sie ganz gewiss, sagte er. –
Anmerkungen:
(1) Dies spielt auf den Trailer der Netflix-Serien "How to sell drugs online (fast)" an, in der der Hauptdarsteller zu Beginn feststellt, er sei Teil einer Generation Z, die ungeahnte technologische Möglichkeiten habe, ihr aber (mit den Smartphones - gezeigt werden zwei Mitschüler -) nichts weiteres einfalle als "Gesichtertausch" (wird im entsprechend animiert), vgl. https://www.youtube.com/watch?v=3sxg1xXmd0I
Hinweise:
Den Original-Text findet man z.B. im Gutenberg-Projekt beim Spiegel, vgl. https://gutenberg.spiegel.de/buch/politeia-4885/1
Mein Text folgt der dortigen Übersetzung von Friedrich Schleiermacher; mir ist bewusst, dass diese "wie aus der Zeit gefallen" wirkt; das habe ich bewusst so übernommen.
Sollte jemanden auffallen, dass einzelne Aspekte, v.a. also Gleichnis-"Bilder", "schief" sind, würde ich mich über eine Rückmeldung in den Kommentaren oder auf Twitter @Der_Medienwart sehr freuen.
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