Die Philosophie steht manchmal im Verdacht, es mit der Begriffsarbeit und den daraus folgenden Definitionen zu übertreiben. Allerdings gilt auch, dass im Zeitalter der Beschleunigung manchmal nicht genügend Zeit und Sorgfalt auf die Bestimmung der Begriffe gelegt wird. Der hier vorliegende Versuch wird unter inhaltlicher Bezugnahme auf wenige Hauptakteure (Honegger, Stalder, Krommer) zunächst die Begriffe digitus / digital, Digitalisieren / Digitalisierung und Kultur der Digitalität zu klären haben.
Auf strengste Systematik wird dabei verzichtet, das kann u.a. dazu führen, dass zumindest Konzepte nebeneinanderstehen können, die – systematisch geordnet – nicht nebeneinanderstehen würden. Im Laufe der Definitionstätigkeit werden weitere Begriffe eingeführt, auf deren Hintergründe / Bedeutungen manchmal nur kursorisch verwiesen werden kann. Die Begriffsarbeit will schließlich in den Versuch münden, bei gesetzter Notwendigkeit, den Schritt zur Didaktik (in) der Digitalität zu vollziehen (vgl. Punkt 4), auch aufzuzeigen, wie die wenig fruchtbaren Auseinandersetzungen zu vermeiden sind. Dazu gehört es manchmal, gesetzte Thesen abzulehnen, weil sie vor Trivialität nur so strotzen.
1a) Digital / digital
Tatsächlich ist ‚digital‘ die adjektivische Ableitung von digitus (Finger) und meint also „zum Finger gehörig“. Wegen der Eigenschaft der Finger, die zum Zählen verwendet wurden / werden, bedeutete ‚digitus‘ im Lateinischen auch ‚Ziffer‘. Diese Bedeutung, digital = Ziffer wird hier die zentrale Klammer für den Gedankengang. Als informationstechnische Basisvorstellung definieren wir mit Hartmann, unter ‚digital‘ ‚zwei schaltbare Positionen oder ein Bit (binary digit) an Information‘ zu verstehen. Diese Begriffsbasis aufgreifend und schnell überschreitend und mit der Perspektive ‚Digitalisierung‘ versehend, definiert Honegger 2016 wie folgt: „‘Digital‘ bedeutet, dass sich alle möglichen Daten (Texte, Bilder, Töne, Videos) mit dem gleichen Alphabet, bestehend aus den beiden Zeichen 0 und 1, darstellen lassen. Diese strenggenommen ‚binär‘ zu nennende Darstellung erlaubt es, alle Daten elektronisch in einem einzigen Gerät – dem Computer – zu speichern“ (ebd.). In der grundlegenden Schrift 'Kultur der Digitalität' definiert Stalder im Kontext von Referentialität 'digital codiert' wie folgt: 'Informationen sind digital codiert, wenn sie mittels eines begrenzten Systems diskreter (das heißt, durch endliche Intervalle oder Abstände voneinander getrennter), in sich bedeutungsloser Zeichen gespeichert werden' [...] Die alphabetische Schrift ist eine Form der Codierung sprachlicher Informationen mittels diskreter, in sich bedeutungsloser Zeichen. Mit Bezug auf Cramer kann Stalder dann feststellen, dass jede Literatur, die nicht mehr auf Schriftbild oder Lautlichkeit beruht, digital gespeichert ist. Und dann weiter: 'Die spezifischen Eigenschaften des Alphabets, so betonte Marshall McLuhan immer wieder, konnten sich allerdings erst mit dem Buchdruck voll entfalten. Erst der Buchdruck abstrahierte die Schriftzeichen von der analogen Handschrift und realisierte sie als standardisierte, verlustfrei repetierbare Zeichen. Mit dem Buchdruck wurde die Schrift in diesem praktischen Sinne digital [...]'.(Stalder im Kapitel Referentialität).
Die nächsten Schritte der Begriffsarbeit widmen sich der Verbform, so dass es möglich wird, eine Vorstellung davon zu gewinnen, welcher technikgetriebener Prozess das ist, in dem alles digital wird.
Anmerkung 1: Rund um die Begriffsbestimmung ‚digital‘ existiert große Unklarheit. Die Bestimmung oben beruht auf einer Art kontextualistischer Vorstellung im Jahr 2019. Grundsätzlich bleibt die Frage, ob v.a. in der Gegenüberstellung von analog und digital ein Kategorienfehler vorliegt. Diese Frage hat Zimmerli in der Neuen Züricher Zeitung am 18.7.2018 diskutiert und versucht, anhand der Uhrenanzeige die Begriffsfrage zu lösen (vgl. https://www.nzz.ch/amp/feuilleton/die-wiederkehr-des-analogen-im-digitalen-ld.1402729).
„Handelt es sich bei dem Begriffspaar «analog oder digital» nun eigentlich um eine Bullshit-Alternative? – Nach allem Entwickelten kann die Antwort nicht anders heißen als: Ja. In der unreflektierten exzessiven Verwendung, die dieses Begriffspaar gegenwärtig findet, sind es leere Worthülsen auf dem «Flohmarkt der Begriffsmoden» (Peter Strasser), mit denen in der Regel anderes angerichtet wird. Wenn wir jedoch genauer darüber nachdenken, gewinnt dieses Begriffspaar eine Fülle von Gehalt, dem nachgehen muss, wer über die digitale Gesellschaft im digitalen Zeitalter nicht nur schwätzen, sondern sie verstehen will“. Wie Felix Luebeck, der Blogger „Ideenschmied“ jedoch gezeigt hat, ist auch Zimmerli gescheitert (er zeigt es am Uhrenbeispiel Zimmerlis). In dieser Diskussion bezieht sich Luebeck auf den Brockhaus von 1988, in dem zu lesen ist (in Bezug auf Technik und Physik): „Stufenförmig, nur diskrete, d.h. nicht stetig veränderliche Werte annehmend; in diskrete Einzelschritte aufgelöst; Gegensatz: analog (im Sinne von stufenlos, stetig, kontinuierlich)“. Der Schlüsselbegriff ist dabei ‚diskret‘ (wiederum in Technik) = ‚trennbar‘ oder ‚unterscheidbar‘. Mit Hilfe dieses Begriffes zeigt Luebeck, dass die vermeintlich analoge Uhr, die, wenn sie im Sekundentakt tickt, dies genau 86.400 x pro Tag tut. Damit sind eben 86.400 diskrete Zustände pro Tag definiert, damit ist die anscheinend analoge Uhr ein digitales Instrument, da sie eben nicht ein analoges Kontinuum ist. (vgl. https://www.ideenschmied.eu/digitalisierung-ist-kein-modewort/). Luebeck zeigt darüber hinaus, dass das, was wir heute unter ‚digital‘ und ‚Digitalisieren‘ verstehen, korrekterweise in vielen Fällen ‚Elektronifizierung‘ heißen müsste, und zwar in dem Sinne, dass Datenverarbeitung von diskreten Daten nun mit Hilfe elektronischer Geräte geschieht.
Hier wird nun dafür plädiert, in Kenntnis der Problematik, die sich v.a. dann zeigt, wenn das Begriffspaar ‚analog vs. digital‘ verwendet wird, dennoch der kontextualistischen Verwendung der Gegenwart zu folgen, dabei wird jedoch der Versuch unternommen, Irrtümer und Missverständnisse, wie sie Luebeck oben in Bezug auf das ‚Analoge‘ aufgezeigt hat, zu vermeiden.
1b) Digitalisieren
In der Wikipedia kann man zur Zeit (Feb. 2019) lesen, dass Digitalisierung ursprünglich „dass Umwandeln von analogen Werten in digitale Formate“ ausdrückte. Das Entscheidende in diesem Prozess ist, dass sich die Daten fortan informationstechnisch verarbeiten lassen, „ein Prinzip, das allen Erscheinungsformen der Digitalen Revolution (die heute zumeist gemeint ist, wenn von Digitalisierung die Rede ist [...] zugrunde liegt" (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Digitalisierung). Schon im Jahr 2000 hatte sich Zimmer sich Verbs ‚digitalisieren‘ angenommen, der uns noch einmal an den Ursprung erinnert: Dort heißt es: „Digitalisieren heißt genau genommen so viel wie ‚verziffern‘, ‚in Ziffern verwandeln‘; das französische Wort verrät am deutlichsten, worum es geht: numériser, vernummern (vgl. oben die Bedeutung digitus = Ziffer). Die Digitalisierung ist die Erzeugung eines elektronischen Abbilds, das in viele, jeweils in einer (ganzen) Zahl ausgedrückte Einzelteile zerlegt ist. Gleitende Übergänge zwischen den Werten gibt es nicht, jeder Wert steht einzeln (diskret) neben dem nächsten. (vgl. E. Zimmer (2000): Digital? Elektronisch? Binär? Virtuell? In: Bibliothek der Zukunft, S. 200, zitiert nach ebd.) (Anmerkung des Autors: Der Begriff „elektronisches Abbild“ wirkt zumindest unglücklich und verweist auf eher vormoderne Bild/Abbild-Theorien).
1c) Digitalisierung
Digitalisierung im engeren Sinne soll als Verfahren verstanden werden, in dem alle anfallenden Daten in einem vereinbarten Satz an Zeichen, bezogen auf den für Computer entscheidenden Satz binärer Zeichen, bestehend aus den Zeichen 0 und 1, gespeichert werden (können). Zugleich weitet sich der Begriff mehrfach, zunächst wird er als gesellschaftlicher Prozess verstanden, dann meint Digitalisierung im engeren Sinne des Wortes die Elektronifizierung analoger und digitaler Daten. Es ist die Elektronifizierung dieser Daten, die somit in eine Form gebracht werden, die von Rechnern gelesen und weiterverarbeitet werden können (vgl. dazu noch einmal Luebeck oben in Anmerkung 1). Diese Digitalisierung der Gesellschaft durch die Gesellschaft (vgl. Baecker) ist das Phänomen der Gegenwart. Dies meint Digitalisierung im weiteren Sinne des Wortes.
Zusammenfassend lässt sich hier sagen, dass wir uns mit einem Prozess befassen, in dem komplexe Alphabete in einen einfachen Satz aus Zeichen, zumeist binär, bestehend aus 0 und 1, überführt werden, um in dieser Form informationstechnisch verarbeitet zu werden. Für diese Verarbeitung stehen immer mehr, immer bessere und auch immer kleinere Geräte zur Verfügung, deren begriffliche Klammer ‚der Computer‘ ist. Diese Erscheinungsformen meinen wir, wenn wir von der ‚Digitalen Revolution‘ sprechen, die in Ihrer Wucht, wie sie auf die Gesellschaften trifft, mit der Umwälzung durch die industrielle Revolution vergleichbar ist und vielleicht noch weitreichendere Folgen als Letztere zeigen wird.
Hier wird jetzt noch eine Erweiterung vorgenommen, da dieser Text die Intention verfolgt, den Begriffskomplex ‚Digitales‘ für den Bildungsbereich hinreichend genau zu klären, daher nehme ich nun Bezug auf die Definition der Kultusministerkonferenz. Diese fasst 2016 ‚Digitalisierung‘ noch einmal weiter und lässt den instrumentellen Charakter des „Digitalen“ erahnen: „Die Digitalisierung unserer Welt wird hier im weiteren Sinne verstanden als Prozess, in dem digitale Medien und digitale Werkzeuge zunehmend an die Stelle analoger Verfahren treten und diese nicht nur ablösen, sondern neue Perspektiven [!] in allen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Bereichen erschließen, aber auch neue Fragestellungen z.B. zum Schutz der Privatsphäre mit sich bringen“.
(vgl. Kultusministerkonferenz (2016): Bildung in der digitalen Welt, S. 8). (vgl. für alle Zitate: https://beat.doebe.li/bibliothek/w01513.html). Fetthervorhebungen von mir, M.S.)
Anmerkung 2: Zu beachten ist, dass in dem Zitat der oben problematisierte Gegensatz von ‚analog‘ und ‚digital‘ verwendet wird.
Hornuff setzt sich mit ZUKUNFT und DIGITALISIERUNG auseinander, beschwert sich, dass andere das Digitale nicht definieren und lässt es ebenfalls aus.
2. Kultur der Digitalität
Felix Stalder hat im Suhrkamp-Verlag 2016 das Basiswerk mit dem Titel „Kultur der Digitalität“ vorgelegt. Hier ist nun Platz für drei Aspekte: a) geklärt werden soll, wie der Begriff der Kultur verwendet wird und b) wie der Begriff „Digitalität“ verstanden wird. Schließlich können c) zwei vorgängige Basisbegriffe eingeführt und einige neue Begriffe vorstellt werden, die als „Formen der Digitalität“ eigenständige Betrachtungen erfordern.
a) Beginnend mit den Phänomenen der Alltagserfahrungen in digitalen (sozialen) Medien versteht Stalder die „enorme Vervielfältigung der kulturellen Möglichkeiten als einen Ausdruck der „Kultur der Digitalität“. Die Entwicklung hin zur „Kultur der Digitalität führt er auf einen unumkehrbaren gesellschaftlichen Wandel zurück, der teilweise bis in das 19. Jahrhundert zurückreicht. „Komplexe Technologien“, die „Entstehung unabhängiger Medien“ und der Entwicklung „des Internets zu einem Massenmedium“ versteht Stalder als Prozesse, die „heute miteinander verschränkt und als kohärente Kultur der Digitalität gesellschaftlich dominant“ sind. So räumt Stalder schließlich ein, dass er den Begriff der Kultur und der Digitalität „unorthodox“ verwendet und erläutert: „Als Kultur werden im Folgenden all jene Prozesse bezeichnet, in denen soziale Bedeutung, also die normative Dimension der Existenz, durch singuläre und kollektive Handlung explizit oder implizit verhandelt und realisiert werden [...Der Autor folgert daraus – in Abgrenzung vulgärer gesellschaftlicher Theorie von „Basis“ und „Überbau“, M.S.] Kultur ist nicht symbolisches Beiwerk, kein einfacher Überbau, sondern sie ist handlungsleitend und gesellschaftsformend“. Stalder versteht in diesem Kontext von Kultur die ‚Medien‘ als Technologien der Relationalität, „das heißt, sie erleichtern es, bestimmte Arten von Verbindungen zwischen Menschen und zu Objekten zu schaffen. b) ‚Digitalität‘ bezeichnet damit jenes Set von Relationen, das heute auf Basis der Infrastruktur digitaler’ Netzwerke in Produktion, Nutzung und Transformation materieller und immaterieller Güter sowie in der Konstitution und Koordination persönlichen und kollektiven Handelns realisiert wird [...] ‚Digitalität‘ verweist also auf historisch neue Möglichkeiten der Konstitution und der Verknüpfung der unterschiedlichsten menschlichen und nichtmenschlichen Akteure. Der Begriff ist mithin nicht auf digitale Medien begrenzt, sondern taucht als relationales Muster überall auf und verändert den Raum der Möglichkeiten vieler Materialien und Akteure“.
(vgl. für alle Zitate die Einleitung von Stalder (2016) Kultur der Digitalität, Fetthervorhebungen von mir, M.S.).
Schon in der Einleitung verdeutlich Stalder, dass der Begriff ‚Kultur der Digitalität‘ auf den gesellschaftlichen Ganz-Raum, in dem Menschen handeln und ihre normativen Ziele zu realisieren versuchen, verweist. ‚Digitalität‘ wird dabei notwendig an „das Set von Relationen“ geknüpft, das seine materielle Basis in den rechnergestützten Netzwerken hat und das durch den Austausch vorwiegend von immaterieller Güter individuelles und kollektives Handeln durch vergesellschaftete Individuen gesetzt und immer weiter erneuert und verändert wird.
c) Stalder verweist auf zwei bedeutende „Zeitalter“-Begriffe. Mit Bezug auf Marshall McLuhan weiß er, dass dieser schon vor ca. 50 Jahren das Ende der Moderne ausgerufen hatte. In diesem Zusammenhang hatte McLuhan den Begriff der „Gutenberg-Galaxis“ gewählt, die sich dadurch auszeichnete, dass die gedruckte Schrift als Medium eine ganze Epoche prägte. Stalder versteht die Gegenwart als Verwirklichung der damaligen „medienwissenschaftlichen Spekulation“. Aber was folgte auf die Gutenberg-Galaxis? Stalder weiß, dass schon 1995 Wolfgang Coy in seiner Einleitung zu „McLuhan, Marshall, Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalter, Köln, vorschlug, ganz im Sinne der McLuhan-Metapher das neue Zeitalter als „Turing Galaxis“ zu verstehen (dazu später mehr). Hier wird vorgeschlagen mit Krommer vom ‚Turing-Paradigma‘ zu sprechen.
Im weiteren Verlauf wären nun einmal ein additives Dreierset und ein antagonistisches Zweierset an Begriffen vorzubringen, die Stalder als „Formen“, bzw. als „Richtungen der Digitalität“ einführt: Die Digitalität nimmt die folgenden Formen ein: Referentialität – Gemeinschaftlichkeit – Algorithmizität. Die „Richtungen des Politischen“ laufen laut Stalder parallel auf die widersprüchlichen politischen Perspektiven Postdemokratie und Commons hinaus. Der Zusammenhang von Digitalität und Gesellschaft ist damit bestimmt: In den Formen der Digitalität wirkt diese auf und in Gesellschaft. Die sich in dieser Umbruchsphase krisenhaft weiterentwickelnde Gesellschaft existiert ein Szenario-Trichter, ‚best case vs. worst case‘, in dem das Best-case-szenario als fortschrittliche Gesellschaft der Teilhabe und des Teilens, in anderen Zusammenhängen als ‚Shareconomy‘ begrifflich gefasst, und im worst-case-szenario als ein autoritäres Vergesellschaftungsregime mit postdemokratischen Charakters verstanden wird (vgl. unten Anmerkung 3).
Zum Dreierset der Begriffe führt Stalder wie folgt aus: „Referentialität, also die Nutzung bestehenden kulturellen Materials für die eigene Produktion, ist eine zentrale Eigenschaft vieler Verfahren, mit denen sich Menschen in kulturelle Prozesse einschreiben“. „Gemeinschaftlichkeit ist die zweite Eigenschaft, die diese Prozesse kennzeichnet. Nur über einen kollektiv getragenen Referenzrahmen können Bedeutungen stabilisiert, Handlungsoptionen generiert und Ressourcen zugänglich gemacht werden“. Dergestalt entstehen „selbstbezogene Welten“: „In ihnen wirken Dynamiken der Netzwerkmacht, die Freiwilligkeit und Zwang, Autonomie und Fremdbestimmung in neuer Weise konfigurieren. Die dritte Eigenschaft der neuen kulturellen Landschaft ist ihre Algorithmizität, das heißt, sie ist geprägt durch automatisierte Entscheidungsverfahren, die den Informationsüberfluss reduzieren und formen, so dass sich aus den von Maschinen produzierten Datenmengen Informationen gewinnen lassen, die der menschlichen Wahrnehmung zugänglich sind und zu Grundlagen des singulären und gemeinschaftlichen Handelns werden“.
Zu den Begriffen Postdemokratie und Commons führt Stalder wie folgt aus: „‘Postdemokratie‘ verweist auf Strategien, die der enormen Ausweitung der gesellschaftlichen Kommunikationsfähigkeit mit einer Entkoppelung von Beteiligungs- und Entscheidungsmöglichkeiten entgegentreten: Alle können sich äußern, entschieden wir aber von einigen wenigen [...] Die sozialen Massenmedien wie Facebook und Google werden als deutlichste Ausprägung dieser Tendenz in den Blick genommen [...] ‚Commons‘ meint hingegen Ansätze, neue, umfassende Institutionen zu entwickeln, die nicht nur Beteiligung und Entscheidung direkt miteinander verbinden, sondern die die in der Moderne weitgehend getrennten Sphären des Ökonomischen, Sozialen und Ethischen zusammenführen. Postdemokratie und Commons lassen sich als zwei politische Entwicklungslinien verstehen, die über die aktuelle Krise liberaler Demokratien hinausweisen und neue politische Projekte darstellen. Das eine kann man als im Kern autoritäres System charakterisieren, das andere als die radikale Erweiterung und Erneuerung der Demokratie von der Repräsentation hin zur Partizipation“.
(alle Zitate ebd.)
Anmerkung 3: vgl. dazu: Postdemokratie ist ein Begriff, der seit den 1990er-Jahren in den Sozialwissenschaften vermehrt Verwendung findet, um eine aktuelle generelle Veränderung demokratischer Systeme zu erfassen. Grundthese ist, dass es einen Rückbau tatsächlicher politischer Partizipation gibt zugunsten einer lediglich demonstrierten Demokratie, indem z. B. Wahlen zu einem im Wortsinn formalen und tatsächlich folgenlosen Verfahren werden. Maßgeblich geprägt und verbreitet wurde der Begriff durch eine Publikation des britischen Politikwissenschaftlers Colin Crouch aus dem Jahr 2004, auf Deutsch erschienen im Jahr 2008 ( https://de.wikipedia.org/wiki/Postdemokratie).
Der Begriff Sharing Economy, seltener auch Share Economy, ist ein Sammelbegriff für Firmen, Geschäftsmodelle, Plattformen, Online- und Offline-Communitys und Praktiken, die eine geteilte Nutzung von ganz oder teilweise ungenutzten Ressourcen ermöglichen […] Das in jüngster Zeit zunehmende Interesse an der Sharing Economy lässt sich besonders auf die verstärkte Nutzung von Informationstechnologien wie soziale Netzwerke und elektronische Marktplätze sowie mobile Zugriffsgeräte und elektronische Dienstleistungen zurückführen. Informationstechnologie ermöglicht nicht nur direkte Interaktion zwischen Nutzern und Organisationen, sondern trägt auch maßgeblich zur Skalierbarkeit und Verbreitung des Phänomens bei. Darüber hinaus spielen aber auch soziale Aspekte wie Konsumentenverhalten und -gewöhnung, Wertschätzung von Eigentum bzw. Verzicht darauf eine entscheidende Rolle […]. (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Sharing_Economy ).
An dieser Stelle könnte man einen ersten Versuch starten, Bildungsaufgaben in einer ‚Kultur der Digitalität‘ zu formulieren. Auf der abstraktesten Ebene könnten diese wie folgt dargestellt werden:
Alle Bildungsanstrengungen laufen auf die Zurückweisung autoritärer Vergesellschaftungsmodelle hinaus. Gleichzeitig werden alle Richtungen unterstützt, die auf die Ausgestaltung des ‚Commons‘ gerichtet und im Wortsinne demokratisch sind (das Wort Commons ist z.B. in der CreativeCommons-Lizenzierung von OER (Open-Educational-Ressources)-Materialen enthalten).
Darüber hinaus wird es um die Aneignung eines Verständnisses von Algorithmen gehen und zwar durch aus so, wie das die Medienkompetenzrahmenpläne des Jahre 2019 anbahnen. Das Aushandeln von Grenzen der Algorithmizität wird dann auf dieser Basis ethisch, politisch, sozial und ökonomisch erfolgen. Verschiedenste Kategorien werden anzulegen sein, um die Folgen bewusst zu halten. Für diesen Kontext hat v.a. Christoph Kucklick in „Die granulare Gesellschaft“ gesorgt: Er zeigt im Kapitel z.B. auf, wie Algorithmen „gerechter“ wirken können als Menschen, wenn wir sie richtig handhaben. Aber genau so können sie zur Matrix der Kontrollgesellschaft werden. Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich, heißt es. Kucklick nutzt diesen Ausgangspunkt, um im Konjunktiv über Scoring und Profiling in einer Gesellschaft der Zukunft zu schreiben, die – in granularer Qualität und Gestalt – einzelne Individuen identifizieren und singulär diskriminieren kann (Etwa so, wie es eine KFZ-Versicherung mit jemanden angestellt, der mehrere Unfälle in aufeinander folgenden Jahren hatte). Kucklick:
„Die eigentliche Pointe der Überlegungen besteht allerdings darin, dass das, was ich im Modus des Konjunktivs beschrieben habe, in vielen Bereichen längst Wirklichkeit ist. Die Algorithmisierung der Politik findet bereits statt. Wir haben die Zukunft bereits betreten – ohne zu wissen, worauf wir uns eingelassen haben. […] Beim ‚Kampf gegen den Terrorismus‘ kommen etwa ausgefeilte Vorhersagesysteme zum Einsatz. Die Niederlande erstellen datengestützte Profile aller Einreisenden und sortieren sie in Gefahrenklassen. […] Das Ziel ist die Singularisierung des Risikos. Ein hochrangiger Beamter sagt: ‚Wir benutzen die Daten, um auf das tatsächliche, individuelle Verhalten so zu fokussieren, nicht auf Rasse oder Ethnizität. So vermeiden wir krude Vorurteile‘. Der Algorithmus als vermeintlich fairer Schiedsrichter. Tatsächlich aber wird damit die Entscheidung, wer einreisen darf und wer nicht, den üblichen rechtsstaatlichen Methoden entzogen. Nicht belastbare Indizien, nicht richterliche Anordnungen geben den Ausschlag, sondern ein undurchschaubares Geflecht aus Algorithmen und Variablen“. (vgl. Christoph Kucklick im Kapitel Politik der Eventualitäten; Fetthervorhebung von mir).
Diese Gedanken in Verbindung mit sozialen Medien auf das Politische übertragen, bedeutet dann nichts anderes als das Ende der Demokratie. Direkt nach dem Wahlsieg von Trump diskutierte das Welchering im Deutschlandfunk: ‚Es geht nämlich nicht um politische Werbung auf Facebook. Es geht um individuelle Manipulation, indem einzelnen Menschen genau das versprochen wird, was sie sich politisch gerade wünschen – völlig unabhängig davon, wie unrealistisch das ist oder ob diese Wünsche zu den politischen Inhalten des Kandidaten passen. Und solche individuelle politische Propaganda kann eben nur noch von Algorithmen geleistet werden, nicht mehr von Menschen‘. Vgl. https://www.deutschlandfunk.de/politik-4-0-online-manipulation-der-waehler.684.de.html?dram:article_id=373640). Daher müssen sich alle Bildungsprozesse auf die volle Unterstützung demokratischer Gemeinschaftlichkeit richten, ohne dass dabei das Individuum und dessen Schutzrechte vernachlässigt werden. Schließlich geht es auch um das Bewussthalten der Referentialität des Digitalen.
3. Wider der Trivialisierung der Einwände gegen „Digitalisierung von Schule und Unterricht“
Krommer zeigt in einem kurzen Text, dass Formulierungen wie etwa „Der Lehrer ist wichtiger als das Tablet“ oder „Mit Computer allein ist es nicht getan“ oder „Digitale Medien verbessern den Unterricht nicht immer“ trivial sind; sie bestehen die Anforderungen der Sprechakttheorie nicht, „denn es gibt ganz offensichtlich niemanden, der das Tablet für wichtiger hält als den Lehrer und/oder glaubt, dass man alleine mit Computern die Probleme in den Schulen lösen kann, und/oder die Auffassung teilt, dass digitale Medien den Unterricht immer verbessern“. Schließlich schlägt Krommer einen neuen Begriff für diese Scheinbehauptungen vor, nämlich „pädagogische A-Hauptung“ statt „gehaltvolle Behauptung“.
(vgl. https://axelkrommer.com/kurz-notiert/#004)
Im nächsten Schritt verweise ich jetzt auf eine Sammlung von Standardantworten zur digitalen Bildung von Gerhard Brandhofer. Hier sollen die ersten fünf ‚Standardantworten‘ zitiert werden, weil diese bereits detailliert ausgeführt vorliegen, andere werden dies wohl zukünftig. In den Standardantworten wird wiederum auf wesentliche Aufsätze von Krommer und Honegger verwiesen. Aufgezählt sehen die Standardantworten wie folgt aus:
1. Wir sind uns nicht einig, was wir unter digitaler Bildung verstehen.
2. Wir wissen nur ansatzweise, wie Unterricht unter den Bedingungen der Digitalität aussehen wird.
3. Es kommt nicht ausschließlich auf den Mehrwert an.
4. Bildung unter den Bedingungen der Digitalität ist in der Schule Querschnittsmaterie und es braucht garantiert Zeitgefäße.
5. Der Slogan ‚Pädagogik vor Technik‘ ist zumindest irreführend.
(vgl. https://www.brandhofer.cc/standardantworten/#more-494)
Das „Gesamtpaket“ ‚Gegen die Trivialisierung‘ zusammen mit den ‚Standardantworten‘ ist aus meiner Sicht eine gute und hinreichend umfassende Reaktion auf „Störmanöver“ all jener, die vornehmlich mit einer Abwehrhaltung auf den raschen Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft antworten und die Bildungssysteme davon verschont wissen wollen. Diese Arbeit an Argumentationen und Belegen für den Neuwert digitaler unterrichtlicher Strategien ist nicht zuletzt auch notwendige Begleitung für die jetzt erfolgten Setzungen der Behörden (ausgehend vom KMK-Papier 2016, siehe oben): Es geht nicht mehr um das ‚Ob‘, sondern nur noch um das ‚Wie?‘ der Digitalisierung. Aber Achtung! Verhängnisvoll wäre, würde Gesellschaft bei einer ‚Kultur der Digitalisierung‘ verweilen. Leider sprechen noch viele Anzeichen dafür. Eickelmann et al. Hat jüngst gezeigt, dass in NRW ca. 50 Prozent der Lehrkräfte ‚Nie-Nutzer*innen‘ digitaler Medien sind. Eine Diskussion um Digitalisierung vs. Kultur der Digitalität führt unter diesen Bedingungen recht sicher dazu, dass, weil die Vorangehenden den Abwehrenden dennoch „irgendwie“ gerecht werden wollen, weil schließlich „alle mitgenommen werden wollen“ und „keiner zurückgelassen werden soll“, das Notwendige, das Sich-Einlassen auf die ‚Kultur der Digitalität‘ eher nicht gewagt wird und verkleinerte Formen von Digitalität zu einer „palliativen Didaktik“ geraten: Irgendein überliefertes unterrichtliches Tun wird mit etwas Digitalem ummantelt (digitalisiert) und wird somit der ‚Kultur der Digitalität‘ nicht gerecht. In der Konsequenz droht dergestalt eine sich selbst erfüllende Prophezeihung: v.a. die Nie-Nutzer*innen werden sich durch zu befürchtende palliative Effekte bestätigt finden. Die Schlussfolgerungen von Eickelmann et al. sind konsequent: Es bedarf der konzeptionellen Verankerung von Fortbildung, die darauf zielt, nicht nur die Zahl der Nie-Nutzer*innern zu verringern, sondern auch diejenigen, die digitale Medien bisher nur sehr selektiv verwenden, umfassender zu qualifizieren.
(vgl. dazu https://axelkrommer.com/2017/10/01/notwendige-neologismen-palliative-didaktik/).
4. Ein unterstützenswerter Versuch: Neuwert statt Mehrwert
Es ist häufig wie verhext. Man weiß um die Schwierigkeiten, in die man sich begibt, wenn man den Begriff verwendet, und doch tut man es: man hat ganz einfach keine anderen Begriff parat. Auch hierzu weiß Krommer Rat und führt daher- via Twitter – das Lexikon der „notwendigen Neologismen“ (folge dem entsprechenden Hashtag). Auf einen dieser Neologismen wurde gerade oben verwiesen.
Kein Neologismus ist es, wenn man einen unbrauchbaren bekannten Begriff durch einen bekannten anderen Begriff ersetzen möchte. Das ist aber der hier vorgeschlagene Vorgang. Nach der „Mehrwert-Debatte“ (entzaubert bei Krommer) ist auf dem #digiSummit19 vorgeschlagen worden, den Begriff Neuwert statt Mehrwert zu nutzen. Er wird u.a. im Kontext modellorientierter Diskussionen, wenn ‚SAMR‘- oder ‚4K‘-Modell des Lernens zu erörtern sind, zeigen müssen, ob er trägt. In einer Didaktik, die die ‚Kultur der Digitalität‘ ernst nimmt, die also u.a. hochgradig netzwerkorientiert „funktioniert“, wird er vielleicht nur Platzhalter sein, bis ein besserer Begriff zur Verfügung steht. Alles in allem aber ein wirklich unterstützenswerter Vorschlag:
5. Die Vermeidung unterkomplexer Gegenüberstellungen
Mit dem Pragmatismus-Buch Dirk von Gehlens liegen zwei Standardvorgehensweisen vor, mit denen gezeigt werden kann, inwiefern unschöne und wenig ertragreiche Auseinandersetzungen geführt werden können (Gemeint sind dabei Auseinandersetzungen, in denen die Gegenseite über die oben gezeigte Schein-Argumentation hinaus geht). Die Prinzipien sind von Demut und hoher Empathie getragen und sie passen sehr gut in das Zeitalter der Turing Galaxis oder des Turing Paradigmas, denn es geht a) um den abgewandelten Turing-Test, den ideologischen Turing-Test, bei dem man sich solange im Vertreten der Position A (als Vertreter von Position B) übt, dass ein Dritter nicht mehr entscheiden kann, ob man tatsächlich A vertritt oder nur so tut. Der Test gilt als bestanden, wenn der Dritte diese Entscheidung nicht mehr treffen kann. (Dieser ideologische Turing-Test beruht auf dem historischen Turing-Test, in dem es um die (Un)-Unterscheidbarkeit von menschlich-menschlicher- und menschlich-maschineller-Kommunikation ging.
(vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Turing-Test)
Das zweite Prinzip ist die Umkehrung des passiven Déjà-vu in ein aktives Vujà-de: als Versuch, nunmehr im Bekannten (das ist die Referentialität als einer Form der Kultur der Digitalität von Stalder) das Neue, das Unbekannte zu suchen. (Dies habe ich selbst bereits unter dem Slogan von von Gehlens unter „Mehr Ratlosigkeit wagen!“ zusammengefasst, den Text findet man hier).
6. Literatur:
Gerhard Brandhofer (2019): 8 Standardantworten, auf: https://www.brandhofer.cc/standardantworten/#more-494
Wolfgang Coy (1995): McLuhan, Marshall, Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalter, Köln
B. Eickelmann, S. Jarsinski, R.Lorenz (2019): Unterrichtliche Lernaktivitäten mit digitalen Medien, in: Schule nrw 2/19
Dirk von Gehlen (2018) Das Pragmatismus-Prinzip.
Beat Döbeli Honegger, Definition ‚digital‘, in: https://beat.doebe.li/bibliothek/w01513.html, von hier zitiert: Dirk Baecker (2018) 4.0 oder Die Lücke, die der Rechner lässt; Frank Hartmann (2003): Mediologie; E. Zimmer (2000): Digital? Elektronisch? Binär? Virtuell?, in: Die Bibliothek der Zukunft.
Beat Döbeli Honegger (2016): Mehr als 0 und 1. Schule in einer digitalisierten Welt,
Axel Krommer (2019 und älter): verschiedene Artikel über https://axelkrommer.com, und ausdrücklich: https://axelkrommer.com/2017/10/01/notwendige-neologismen-palliative-didaktik/), . https://axelkrommer.com/kurz-notiert/#004, https://axelkrommer.com/2018/09/05/wider-den-mehrwert-oder-argumente-gegen-einen-ueberfluessigen-begriff/#more-1318
Christoph Kucklick (2014): Die granulare Gesellschaft.
Michael Schöngarth (2019): Mehr Ratlosigkeit wagen!, https://www.m-schoengarth.de/mehr-ratlosigkeit-wagen/
Felix Stalder (2016) Kultur der Digitalität, Frankfurt a.M. (Suhrkamp)
Anne Weiss (2019): Statt Mehrwert lieber Neuwert, über vedducation via Twitter, #digiSummit19
Peter Welchering (2016): Politik 4.0, https://www.deutschlandfunk.de/politik-4-0-online-manipulation-der-waehler.684.de.html?dram:article_id=373640