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Alles Demokratie oder was? Teil 2: Auf der Suche nach dem "X"

Die Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland (und vielen anderen Demokratien) ist eine feine Sache. Seit ihrem Bestehen hat sie sich weiterentwickelt. Heute kommt sie in manchen Formen einer deliberativen Demokratie schon recht nahe. Häufig beraten Experten und Expertinnen die Demokratie (die Parlamentarier) in schwierigen Fragen. Ein nationaler Ethikrat ist eingerichtet. - Und dennoch hat sich der Eindruck verfestigt, dass die dieser Art eingerichtete Demokratie doch nicht mit den großen Herausforderungen der Klimakrise umgehen kann. An machen Orten hört man den Ruf nach der "Expertokratie", den andere gleich in "Öko-Diktatur" übersetzen. Der folgende Text versucht einige dieser Fragen auszuloten und erinnert dabei auch an die Möglichkeit, die Repräsentation der Bevölkerung durch das Los tatsächlich in einer weiteren, repräsentativen Kammer zu realisieren.

 

„Ich bin beispielsweise der Meinung, dass es als demokratisch anzusehen ist, wenn die Herrschenden durch das Los bestimmt werden, während Wahlen als oligarchisch betrachtet werden müssen.“ (Aristoteles)

 

Dass die Herrschaft des Demos eine vertrackte Sache ist, wusste schon Aristoteles. Die Demokratie ist in seinen Augen eine degenerierte Form von Herrschaft, in der der "Eigennutz" der Armen im Vordergrund steht. Der Autor der "Mesotes-Lehre", nach der das richtige Leben "in der Mitte" und nicht bei den Extremen zu suchen ist, findet daher eine Herrschaftsform, in der eine gute Mischung verschiedener Prinzipien vorliegt, eine gute Herrschaftsform. Voraussetzung für Aristoteles ist, dass in einer solchen das Volk, der Demos herrscht. Die Form muss nach Aristoteles "ein Schuss" Oligarchie zugemischt werden, so dass es zu einer guten Mischung zwischen den Prinzipien der Armen und der Reichen kommt.

Welches Element ist es nun, das von Aristoteles als oligarchisches Prinzip angeführt wird? Aristoteles Meinung überrascht uns heute, doch in der Polis war offensichtlich, dass die Ämterbesetzung durch Wahlen einen oligarchischen Charakter haben. Nur die ein bestimmter Teil der Männer hat in der antiken Polis das Privileg, frei von den Geschäften und Hausbewirtschaftung (Oikos) sich Zeit für das Politische nehmen zu können. Aristoteles weiß, dass die Teilhabe an der Politie den je individuellen wirtschaftlichen Erfolg der Menschen voraussetzt; man muss sich die Demokratie "leisten können", würden wir heute dazu sagen. Mit "Teilhabe" ist das aktive Bürgerengagement gemeint, das möglich wird, wenn das Individuum frei von finanzieller Not ist. Eine wirkliche Demokratie, so argumentieren heutzutage z. B. die Befürworter*innen eines bedingungslosen Grundeinkommens, kann erst beginnen, wenn die Grundsicherung bedingungslos ist und eine Höhe erreicht, die eine echte Teilhabe an Gesellschaft ermöglicht. Aristoteles:

 

"Auf welche Art und Weise neben der Demokratie und der Oligarchie die sogenannte Politie entsteht, und wie man sie einrichten muss, mögen wir der Reihe nach an das eben Gesagte anschließend besprechen. Zugleich aber wird das dadurch klar sein, womit man sonst die Demokratie und die Oligarchie bestimmt. Man muss nämlich die Unterscheidung dieser beiden Verfassungen begreifen und dann aus jeder dieser beiden gleichsam das Erkennungszeichen herausnehmen und sie wieder zusammensetzen. Doch es gibt drei Definitionen der Zusammensetzung und der Mischung. [ ..., Aristoteles berichtet über die Mischung der ersten beiden Arten; M.S.]. Die dritte Art resultiert aus beiden Anordnungen, das eine aus dem oligarchischen Gesetz, das andere aus dem demokratischen. Ich meine das in dem Sinn, wie es demokratisch zu sein scheint, die Ämter durch das Los zu wählen, sie aber durch Wahl zu bestimmen eben oligarchisch; und demokratischen scheint zu sein, dass dies nicht von einer Vermögensklasse abhängt, hingegen oligarchisch, dass dies doch im Hinblick auf eine Vermögensklasse geschieht. Aristokratisch demnach und politieartig ist es, aus beiden je eines herauszunehmen, einerseits aus der Oligarchie, dass man die Ämter wählbar macht, anderseits aus der Demokratie, dass dies nicht von einer Vermögensklasse abhängt. Das ist also die Art der Mischung. Die Definition dafür aber, dass Demokratie und Oligarchie gut gemischt sind, liegt dann vor, wenn man sagen kann, dass ein und dieselbe Staatsverfassung Demokratie ist und Oligarchie." Aristoteles, Politik, Buch 4, 1294 a-b).

 

 

Süßes Gift für die Demokratie? Losverfahren, Bild von Hans Schwarzkopf auf Pixabay

 

Die Herrschaft des Loses, die Demarchie, wird seit etwa einem Jahrzehnt wieder intensiver diskutiert. So legte z. B. Yves Sintomer, Professor der Politikwissenschaften an der Pariser Uni VIII, mit "Das demokratische Experiment. Geschichte des Losverfahrens in der Politik von Athen bis heute" eine umfassende Darstellung vor. Man kann das Buch als Verteidigung des Losverfahrens lesen. In Frankreich ist ein Präsident an der Macht, der ohne "Bürger-Bewegung" nicht im Amt wäre. Konsequenterweise hat sich Frankreich nun an die Vorzüge des Loses erinnert und eine Bürgerversammlung zusammengerufen, in der das große Frankreich "als Parlament" 1:1 repräsentiert ist. Um solch ein Ziel zu erreichen, müssen selbstverständlich zunächst viele spezielle "Lostöpfe" generiert werden, aus denen dann die Bürger gelost werden (Sehr schwierig ist das jedoch nicht, so etwas bekommt sogar der Fußballbund UEFA hin, wenn er jährlich zur Auslosung des Achtelfinals der Champions League einlädt). Das Problem der Repräsentation in Deutschland behandelt auch dieser kurze Beitrag des WDR

 

Warum überhaupt darüber nachdenken? Warum erstellt Frankreich eine tatsächliche Repräsentation Frankreichs in einer durch das Los zusammengesetzten Versammlung. Ganz einfach: Wir können - mit Aristoteles - von der Beobachtung ausgehen, dass trotz Artikel 38 des Grundgesetzes, in dem die Wahlen zum Bundestag als "allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim" definiert werden, sich aufgrund der sozialen Struktur einer Gesellschaft, einige Berufe besser eignen als andere, um den Sprung in den Bundestag zu schaffen: So sind regelmäßig Beamte oder Angestellte der Verwaltung (öffentlicher Dienst) und jene Bürger*innen, die im Rechts-, wirtschafts- und steuerberatenden Berufen tätig sind, regelmäßig überrepräsentiert (vgl. z.B. Bundestag.de, Biografien der Abgeordneten). Diese Bürger*innen können es sich der Tendenz nach eher leisten, ein Wahlamt, das auf Zeit vergeben wird, zu übernehmen. Das Problem lässt sich bestimmen als Problem der unzureichenden Repräsentation bestimmt. Das Problem wird dadurch vergrößert, dass das Parlament auch die tatsächliche Altersstruktur der Gesellschaft nicht repräsentiert und repräsentieren kann. Es kann nicht die Altersstruktur nicht repräsentieren, da das Wahlrecht erst mit der Volljährigkeit zugestanden wird. Dennoch muss man feststellen, dass zur Zeit bei einem Bevölkerungsanteil der "unter 35-jährigen von 37 Prozent nur 8,5 Prozent der Abgeordneten unter 35 Jahre alt ist. Die Jugend ist also etwa um den Faktor 4 unterrepräsentiert. Der Bevölkerungsanteil der 18 bis 34-jährigen liegt bei 20 Prozent, so dass die Unterrepräsentation immer noch mit einem Faktor knapp über 2 stark ausgeprägt ist.

 

 

 

 

 

Googelt man "Demokratie durch Los-Verfahren", erhält man viele unterschiedliche Ergebnisse und beinahe ebenso viele Positionen. Viele sind auf die Schweiz bezogen, so findet sich insbesondere der CICERO unter den ablehnenden Stimmen. Die Argumente in Kurzform: (a) "Wahlen ermöglichen die Abwahl", (b) "langfristig gefährdet ein Los-Verfahren die Demokratie" und (c) "Athen [ist] nicht mit modernen Demokratien vergleichbar". Der CICERO wendet sich damit gegen einige Stimmen aus Deutschland, die dem Losen positiv gegenüberstehen (so werden Stimmen aus der ZEIT und der WELT-Gruppe benannt). Erinnern wir uns noch einmal an den Anfang (von Teil 1): Hier wird nicht argumentiert, dass die Demokratie durch eine Demarchie ersetzt werden soll, hier wird der Frage nachgegangen, ob die gute Entwicklung der westlichen Demokratie in der Bundesrepublik, die die Tendenz zu einer deliberativen Beratschlagungsgesellschaft bereits in sich trägt, a) durch Verfassungsrang von Beratschlagung und b) durch Verfassungsrang von ergänzenden Los-Verfahren (in einer eigenen Kammer) entschieden verbessert werden kann, und zwar in dem Sinne, dass auf schwerwiegende Bedrohungen, wie eben durch die Klimakrise, adäquater reagiert werden kann und zusätzlich sich die aufbegehrende Jugend besser repräsentiert sieht.

 

 

Aber muss ich deshalb in eine Partei eintreten, wenn ich mich überhaupt erst mal politisch engagieren und Druck auf die verantwortlichen Politikerinnen ausüben möchte? Nein. Muss ich, wenn ich nicht in eine Partei eintrete, gleich konkrete Ideen haben, wie unsere Demokratie zukünftig smarter als "Parteiendemokratie + X" funktionieren könnte? Nein. Habe ich Respekt vor parteipolitischem Engagement? Auf jeden Fall. Sollten Parteien auch Respekt vor der außerparteilichen politischen Arbeit von Bürgerinnen oder Medien-Influencern haben? Jap, denn wir sind ihre Kontrollinstanz. Peace. (Rezo, 3.12.19, in: DIE ZEIT online).

 

Über die Parteiendemokratie wurde hier noch nichts geschrieben. Ich versuche es mal so: Im besten Fall sind die Parteien Teil der deliberativen Gesellschaft, sie "wirken an der Willensbildung" der Bevölkerung mit. Auch Rezo sieht Vorteile der Parteien, bzw. der Parteiendemokratie. Er räumt ein, dass Parteiendemokratie (a) weniger anfällig gegenüber "Stimmungsmache / Demagogen" ist, dass sie (b) unterschiedliche demografische Gruppen ins Gespräch bringen kann (auch um aus der eigenen "Bubble" herauszukommen) und dass sie (c) politische Entscheidungsträger stellt. 

 

Bundespräsident Steinmeier hat auf Rezo mit der Kommentar-Funktion von Zeit-online auf den Text reagiert, indem er sich insbesondere auf Rezos "Verdacht" einlässt, dass man in Parteien nicht "frei agieren" könne. Der Bundespräsident zeigt dann, dass es doch genau das sei, was in den Parteien vor sich gehe, "frei agieren" heiße doch andere überzeugen, Verbündete finden und auch erkennen, dass man nicht alles alleine schaffe. Letztlich will er davon überzeugen, dass der Kompromiss keine Schwäche, sondern eine Stärke der Demokratie sei. Daher wirbt er auch darum, dass junge Leute in die Parteien, respektive in die Politik gehen. "Deswegen ist mein Rat an junge Menschen: Engagiert Euch - ja: auf Straßen und Plätzen und im Netz. Aber bitte auch in politischen Parteien". (Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier). Rezo fand die Reaktion "voll lieb und freundlich" (@rezo am 6.12.19, 10:37 Uhr).

 

 

 

Versucht man einmal herauszubekommen, warum so viele außerparlamentarischen Akteure heute an der Parteiendemokratie verzweifeln, hilft vielleicht noch einmal der Blick auf die von Schumpeter selbst sogenannte "realistische Demokratietheorie". Ich habe an anderer Stelle dazu ausgeführt. Die Akteure schauen sich die Politik an, wie sie in einer Mediendemokratie zu Schau gestellt wird, und glauben zu erkennen, dass "nach der schmutzigen Arbeit in den Parteien", die als soap opera präsentiert wird und die sich häufig um die Ränkespiele in den Parteien drehen (AKK vs. Merz, alle gegen die SPD-Vorsitzenden usw. usf.), die Wähler*innen ("die Massen") lediglich die Möglichkeit haben, zwischen den zur Wal stehenden politischen Eliten auszuwählen. Politik ist die Auswahl von Parteieliten, die aufgrund dieses Prinzips zunehmend verwechselbar und angepasst erscheinen (an den antizipierten Willen "des Volkes"). Man könnte sagen, dass paradoxer Weise dergestalt das Volk tatsächlich die Macht zurückerhalten halt, in der Demoskopiekratie. Längst ist  es Allgemeinwissen geworden, dass in der Demokratie im Anschluss an die Wahlen die Gewählten alle Kraft darauf verwenden müssen, - um es mit Schumpeter zu sagen - "im Sattel zu bleiben". Ein weitreichender Blick nach vorne mit großen politischen Veränderungsideen darf gemäß Schumpeter überhaupt nicht von den Politikern erwartet werden. Ihre Perspektive endet - der Systemrationalität der politischen Sphäre geschuldet - an der Legislatur.

 

Meine These ist nun die folgende: In den westlichen Demokratien und insbesondere in Deutschland hat sich diese "realistische Demokratietheorie" als heuristischer Blick auf Politik festgesetzt. Dieser besagt, dass die Sphäre der Politik mit ihrer je eigenen Rationalität (das kann man mit Weber bis Luhmann durchdeklinieren) eine politische Elite hervorbringt. Diese politische Elite wird als reale Elite wahrgenommen, die sich alle Jahre wieder der Wahl stellt. Da für Deutschland bisher (noch) gilt, dass diese Elite als stabiles Ensemble wahrgenommen wird, nimmt der Wähler / die Wählerin diese Veranstaltung als eine, sich alle vier Jahre wiederholende Auswahl-Veranstaltung wahr. Dem Wähler und der Wählerin erscheinen die Wahlen mit der Fragestellung versehen: "Wer darf der Erste, wer der Zweite sein?" In Ländern mit dem Mehrheitswahlrecht bedeutet das zugleich "Wer darf regieren, wer muss in die Opposition"? Die Wähler*innen anerkennen kaum die demokratischen Strukturen innerhalb der Parteien, weil sie die Durchsetzung der Spitze eben als Ränkespiel verstehen (siehe oben). Koalitionsverhandlungen, die in politischen System mit Verhältniswahlrecht notwendig werden, werden der Tendenz nach gleichfalls diesem Mechanismus zugeordnet.

Es ist an dieser Stelle aus meiner Sicht nicht notwendig darüber zu diskutieren, wie realistisch die "realistische Demokratietheorie" ist). Aber vor diesem Hintergrund versteht man auch die Zeilen von Rezo viel besser: "Aber muss ich deshalb in eine Partei eintreten, wenn ich ... Druck auf die verantwortlichen Politikerinnen ausüben möchte?" Dieser "realistische Blick" auf die Politik (inklusive Elitenetablierung, die in Jahrzehnten geschieht und im Ortsverein beginnt) führt zur Schlussfolgerung: "Druck ausüben" ist die eigentliche Notwehr des Bürgers gegen die herrschende Parteien-Elite. Rezo will unsere Demokratie "smarter" machen, nämlich als "Parteiendemokratie + X". Er weiß, dass das spezielle, auf Selbsterhaltung ausgerichtete politische System nicht angemessen auf die Krise des ökologischen Systems reagieren kann. Aber worum geht es bei Wahlen eigentlich? Geht es tatsächlich um rationale Einsichten, so dass man im "kleinen" rationalen Kalkül doch in etwa zu den gleichen rationalen Einsichten wie die Experten kommt? Ziehen wir dazu Yuval Noah Harari zu Rate:

  

  

"Bei Wahlen und Referenden geht es nicht darum, was wir denken. Es geht darum, was wir fühlen. Und wenn es um Gefühle geht, sind Einstein und Dawkins nicht besser als irgendjemand anderes. Demokratie geht davon aus, dass menschliche Gefühle einen geheimnisvollen und grundsätzlichen freien Willen widerspiegeln, dass dieser freie Wille die letztgültige Quelle der Macht ist und dass manche Menschen zwar intelligenter als andere sein mögen, alle Menschen aber gleichermaßen frei sind. Wie Einstein und Dawkins hat also auch eine Hausangestellte, die nicht lesen und nicht schreiben kann, einen freien Willen und deshalb zählen ihre Gefühle, die in ihrem Kreuzchen zum Ausdruck kommen, am Wahltag genauso viel wie die jedes anderen" (Harari 2019, aus der 3. Lektion)

 

So wie hier, läuft die Politikberatung allerdings noch häufig auf das "Schwarze(r)-Peter-Spiel" hinaus.

 

 

Versuch eines Fazits: Nehmen wir 'mal den Harari in unsere Überlegungen auf, dann kommen wir zu der folgenden Lagebeschreibung: Wortwörtlich "neben" dem politischen System der Bundesrepublik Deutschland hat sich eine aufgeklärte, auf wissenschaftliche Erkenntnisse rekurrierende Zivilgesellschaft etabliert, die mit dem Blick auf die Klimakrise, die eine Krise des ökologischen Systems ist und die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zum Kollabieren des System führen wird, von dem erschreckenden "klein-klein" der Politik verstört ist. Noch erinnern ihre Akteure die Politik daran, dass auf transnationaler Ebene (z.B. Paris-Abkommen) Ergebnisse erzielt wurden, die viel stärker den Rat der Wissenschaften angenommen haben als die je nationalen Regierungen und Parlamente (Wir erahnen zwischenzeitlich - immer noch mit Schumpeter -, dass dieses Abkommen auf der transnationalen Ebene mit nicht vom "Wähler" legitimierten Teilnehmern und Teilnehmerinnen der Zivilgesellschaft viel leichter zu verabschieden war, da die Versammlung eben nicht auf  "die Legislatur" schielen muss). Die Wissenschaft schaut auch verstört auf die Bevölkerung, die manche Entscheidung sowohl beim Wählen als auch beim Kaufen eher an kurzfristigen und überschaubaren Wünschen ausrichtet. Eben das ist Demokratie: Der freie Wille, gebildet und getragen von Gefühlen, entscheidet sich für A oder B. Gewinnen wird dabei immer jener Typus von Politiker*innen, die die Wähler*innen bei ihren Gefühlen abholen: durch Ausstrahlung und Charisma ("Anziehungsgefühl" = Sympathie) einerseits und andererseits durch Berücksichtigung demoskopischer Erhebungen (Gefühl des "Verstanden-worden-seins" = Empathie).

 

Um die Demokratie smarter zu machen, ist laut Rezo ein großes "X" von Nöten. Der Logiker und Informatiker Rezo sieht dies nach meinen Vermutungen in einer Aufwertung "der Wissenschaft". Was aber ist die Wissenschaft: Ist sie nicht genau jene Beratungsdemokratie, die wir bereits haben und die nur verbessert werden muss. Die Antwort lautet, ja, wahrscheinlich schon. Vielleicht würde Rezo zustimmen, dass NEBEN den existierenden Kammern der Demokratie eine weitere Kammer eingerichtet werden müsste, die der "Wissenschaft" (Das wäre lediglich eine Explikation des bestehenden Beratungssystems: Deutscher Ethikrat, Enquete-Kommissionen etc.). Mein Beitrag soll nun der folgende sein: Diese Explikation der Expertokratie, einhergehend mit der Anerkennung, dass auch die Demokratie in schwierigen Zeiten starke Entscheidungen benötigt um (über)-große Probleme zu lösen, würde von einem großen Teil der Bevölkerung nicht anerkannt. Diese Beratungs-Kammer stünde unter dem Verdacht der "Erziehungs-" oder der "Tugend-Kammer". Von dort aus sind es nur noch kleine Schritte bis zum Vorwurf an die so eingerichtete Demokratie (gemischt mit Elementen der Technokratie, also der Expertenherrschaft), dass es sich hier um "Umerziehung", "Tugendterror" und "Ökodiktatur" handeln würde. Die "smarte Demokratie" also nur mit der Wissenschaft erreichen zu wollen, reicht aus meiner Sicht eben nicht aus. Das Gefühl der Beteiligung würde bei weiten Teilen der Bevölkerung nochmals geringer. Der Vorwurf der "Abgehobenheit" würde sich nun an die Sphäre der Politik und an die Sphäre der Wissenschaftspolitik richten. Es fehlt ein Element, das die Bürger und Bürgerinnen mitnehmen könnte. Welches Element könnte das sein? - Richtig, es ist das Los. Die bis hierher skizzierten zwei bis drei Kammern, zusammengesetzt aus Eliten der Politik und Eliten der Wissenschaft müsste durch eine weitere Kammer ergänzt werden: aus einer Kammer, die sich zusammensetzt aus ausgelosten Bürgerinnen und Bürgern, die aus - sehr vielen! - Los-Töpfen heraus den Demos tatsächlich repräsentieren würden. Auch diese Kammer müsste volle Entscheidungsbefugnis erhalten.

 

Daher gilt: Beobachten wir die Erfahrungen in Frankreich. Dort wagt man einen ersten Versuch. Es ist keine Kammer von Verfassungsrang entstanden, sondern nur eine Bürgerversammlung, die den französischen Demos repräsentiert. Lassen wir uns also wieder erinnern an die "runden Tische" rund um die Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1990 als Verfassung kurzzeitig liquide erschien. Große Herausforderungen benötigen große demokratische Entscheidungen: Eine gute demokratische Entscheidung wäre die, (auch) eine Kammer mit der tatsächlichen Repräsentation der Bevölkerung in den demokratischen Prozess einzubeziehen und diesen dergestalt weiterzuentwickeln.  

 

 

 

Literatur:

 

Alles gesagt? (2019): Rezo, warum willst du Bundeskanzler sein? (8 h 40 min), Ein Podcast-Interview, zitiert nach: https://podcasts.google.com/?feed=aHR0cHM6Ly9hbGxlc2dlc2FndC5wb2RpZ2VlLmlvL2ZlZWQvbXAz&episode=ZjBjZjRiMzhjNmUzMTliZWVkOWQyNTc4MTk1ZmNmZGE&hl=de&ved=2ahUKEwiZ-OzRrqbmAhUEJVAKHctIDosQjrkEegQIARAI&ep=6&at=1575818843190 

Aristoteles: Politik, Buch 4 (1294 b), zitiert nach: https://de.wikipedia.org/wiki/Demarchie

Yuval Noah Harari (2019, 10. Auflage!): 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert (C.H.Beck).

Sascha Lobo (2019: Wider die Ex-Vernuft!, zitiert nach: https://www.spiegel.de/netzwelt/web/neue-spd-fuehrung-wider-die-exvernunft-a-1299607.html.

Sascha Lobo (2019): Der Debatten-Podcast: Neue SPD-Führung: Wider die Ex-Vernunft, zitiert nach:https://soundcloud.com/user-728223693/neue-spd-fuhrung-wider-die-ex-vernunft

Lösungsansatz: Das Losverfahren (2018); zitiert nach: https://www1.wdr.de/fernsehen/docupy/docupy-loesungsansatz-losverfahren100.html

Rezo (2019): Was soll ich in einer Partei?, in: die zeitonline, 3.12.19, zitiert nach: https://www.zeit.de/kultur/2019-12/demokratie-jugendliche-parteizugehoerigkeit-engagement-rezo/komplettansicht.

Joseph A. Schumpeter (2005, 8. unveränderte Auflage): Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (A. Francke, UTB).

Yves Sintomer (2016): Das demokratische Experiment. Geschichte des Losverfahrens in der Politik von Athen bis heute" (Springer VS). 

Statistisches Bundesamt (2019): Altersaufbau 2019, koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung für Deutschland, zitiert nach: https://service.destatis.de/bevoelkerungspyramide/index.html#!a=18,35&g

Frank-Walter Steinmeier (2019):o.T., zitiert nach: https://www.zeit.de/kultur/2019-12/demokratie-jugendliche-parteizugehoerigkeit-engagement-rezo?cid=50724313#cid-50724313