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Wie der Profi-Fußball an sein Ende kam - und wie es dennoch weiterging

Vorüberlegung

Im folgenden Fußball-Essay soll es um das Verhältnis von Leistung und Zufall im hoch kommerzialisierten Profisport gehen. Im Detail soll dann auf Entwicklungen eingegangen werden, die aktuell den Anteil der Leistung reduzieren und dem Zufall mehr Raum geben. Für den Mannschaftssport Fußball, in dem wenige Tore viel entscheiden, soll abschließend eine überraschende technische Intervention aus dem vermeintlichen "Fehlersport" (zuletzt wieder von Thomas Müller und Luis de la Fuente geäußert, gemeint ist: die wenigen Tore fallen durch Fehler der Mannschaft oder der Abwehrkette oder des Torwarts) wieder einen Sport der Raffinesse machen. Den Satz "Fußball ist ein Sport, in dem relativ wenige Tore entscheiden" werde ich mantraartig immer wieder wiederholen.

11 gegen 11 oder Team gegen Team?

Grundsätzlich gilt für den Amateur- und Profisport, dass Leistung und damit Sieg und Niederlage sowohl von den Sportlern als auch von den Fans genau dann akzeptiert werden, "wenn die Leistung gestimmt hat" bzw. wenn der Verlierer „seine Leistung nicht abrufen konnte“ und dem Sieger unterlegen war. In Mannschaftssportarten kann dies auf sehr unterschiedliche Weise der Fall sein: konditionell und intellektuell, spielerisch und taktisch, bzw. bezogen auf eine "geschlossene Mannschaftsleistung", der auf der anderen Seite wenig harmonierende Einzelspieler zugeschrieben werden (wie zuletzt bei der EM24 vor allem den Engländern, in den Worten von Lena Cassel im EMML-Daily-Podcast sinngemäß: England, 11 Spieler, gegen die Niederlande, eine Elf).

Sieg oder Niederlage: Normalität oder Anomalie?

Gerade im Fußball, wo relativ wenige Tore fallen, wurde in der Vergangenheit oft ein romantischer Schleier über die unterschiedlichen Leistungen der Mannschaften in einer Liga, einem Pokalwettbewerb oder einem Turnier gelegt. Aus der Sicht der Fans hieß es in dieser fußballromantischen Zeit: „Wir gehen ins Stadion, weil wir nicht wissen, wie es ausgeht“. Das klingt spannend, war aber nur ein Teil der Geschichte, die auch in einem der berühmtesten und berüchtigtsten Sätze lebte: „Der Pokal hat seine eigenen Gesetze“. Dieser Teil der Geschichte lebte also davon, dass in etwa jedem 20. Spiel von „Klein“ gegen „Groß“, von „David gegen Goliath“ (David mit Heimvorteil) der Kleine gewann. Leider haben sich auch die europäischen Top-Ligen in eine Richtung entwickelt, so dass auch innerhalb einer Liga von dem genannten Gegensatz gesprochen werden muss (mehr dazu weiter unten). Im Fußball war es also offenbar möglich, in einem einzigen Spiel mit Spielglück oder auch nur mit vollem Einsatz - man sprach dann auch von einer „geschlossenen Mannschaftsleistung“ - ein Ergebnis gegen alle Erwartungen zu erzielen. Der Kleine besiegte den Großen. Selbst der Größte musste sich manchmal auf einem viert- oder fünftklassigen Sportplatz dem Kleinen beugen (Stichwort: Weltpokalsiegerbesieger). 

Indem dieser Teil der Geschichte den Pokalwettbewerben „eigene Gesetze“ zuschrieb, perpetuierte er zugleich das Bewusstsein, dass sich im „ehrlichsten Wettbewerb“ aller Wettbewerbe, also in einem Ligabetrieb mit 30, 34 oder 38 Spieltagen, die Klasse und nicht das Glück durchsetzen würde. Insofern war das eingangs zitierte Mantra schon ein Stück Selbsttäuschung, denn wenn im Ligabetrieb der "Große" auf den "Kleinen" traf und mit oder ohne Buchmacher von Wahrscheinlichkeiten die Rede war, dann hoffte der Fan des kleinen Provinzklubs wohl nur darauf, Zeuge eines jener seltenen "Glücksfälle" zu werden, Zeuge einer Anomalie zu werden, wenn der große Klub ausgerechnet „in seinem Stadion“ strauchelte und verlor. 

Schießt Geld Tore? - Der Matthäus-Effekt

Diese Perspektive verwies also schon immer auf die andere Seite der Erzählung, die spätestens seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts auf die Formel gebracht wurde: „Geld schießt Tore“. Diese Erkenntnis stellte die gefühlte (vorzugsweise von Fans der „Kleinen“ geäußerte) Auffassung „Geld schießt keine Tore“ sozusagen vom Kopf auf die Füße. Die brutale Kommerzialisierung ab den 90er Jahren führte dann zusätzlich zu jenem Matthäus-Effekt (hier ist nicht der Lothar gemeint ;-) ), der denjenigen, die in der Vergangenheit schon viele Titel gesammelt hatten, immer mehr vom Gleichen versprach: erst mehr Geld, dann mehr Titel. Und als dieses „mehr“ nach mehreren europäischen Runden „immer mehr“ wurde, entwickelte sich in den nationalen Ligen ein finanzielles Ungleichgewicht, das den Ausgang des Ligabetriebs immer vorhersehbarer auf drei bis sechs ernsthafte Titelkandidaten eingrenzte. Natürlich gab es Ausnahmen: In einer frühen Phase war dies Kaiserslautern in Deutschland und in einer späten Phase Leicester City in England. In Spanien ging 2024 Girona in der Rückrunde die Luft aus, so dass eine Anomalie von Real vermieden wurde. Die Tatsache, dass man mit Geld viel erreichen kann, führte in Deutschland 2009 und 2024 zu weiteren - allerdings anders gearteten - Anomalien im Ligabetrieb.

Zum Matthäus-Effekt gehört auch - und hier wäre man ein Stück weit näher dran an der neutestamentarischen Bedeutung -, dass ein Toni Kross 2024 auch mit Bezug auf das CL-Endspiel sagen kann (paraphrasiert): „Man muss nicht unbedingt den besseren Fußball spielen, sondern man muss nur an sich als Spieler von Real Madrid daran glauben, dass man den Sieg erzwingen wird“. So entpuppte sich Real Madrid letztlich als jene Bestie, die keinen natürlichen Fressfeind mehr neben sich fürchten muss, CL-Titel auf CL-Titel sammelt obwohl man das schlechtere Finalteam ist . Und das geschieht in einer Zeit, in der Neureiche, wie PSG und Manchester City alles dafür getan haben, das zu ändern. Die akkumulierte Vereinshistorie zieht jeden großen Spieler letztlich zum vermeintlich „größten Club“ von allen Clubs. Und dafür wurde das Fundament bereits zu Beginn der europäischen Vergleiche gelegt, als Real Madrid gleich fünfmal von 1955 bis 1960 (und noch einmal 1966) den Titel für sich - man bedenke, unter faschistischen Vorzeichen - verbuchen konnte. So beschreibt der Matthäus-Effekt als soziologischer Begriff, dass die Erfolge der Gegenwart eben durchaus fundamental (im Wortsinne!) auf Leistungen aus der Vergangenheit beruhen.

Demütigend

Doch zurück auf die nationale Ebene: 13 Jahre hat es gedauert, bis Bayer 04 Leverkusen, dem es an finanziellen Mitteln nicht mangelte, die mit europäischen Geldern gepimpten Vereine aus Dortmund und München ablösen konnte. Die Bayern aus München hatten zuvor unter verschiedenen Trainern gezeigt, dass die Idee "Wir gehen ins Stadion (inzwischen eher durch Arenen ersetzt), weil wir nicht wissen, wie es ausgeht!", erledigt hatte. Erst wurde Dortmund mit großem Vorsprung Meister, dann x-mal der FC Bayern. Die Bayern begannen ab 2013 die Liga total zu dominieren. War ein Schweinsteiger nach dem WM-Titel 2014 körperlich völlig am Ende, konnte man mit dem Vorzeigetrainer Guardiola einen mehr als vollwertigen Ersatz holen: Xavi Alsonso, der gerade mit Real Madrid die CL gewonnen hatte (er funktionierte im System Bayern-Guardiola sofort). Spiele des FC Bayern, des nun endgültig für alle sichtbaren Krösus der Bundesliga, schaute man sich nunmehr aus einem einzigen Grund und aus zwei Perspektiven an: Entweder aus Verachtung für die Demütigung des eigenen Vereins durch den „Großen“, oder aus Freude an der Raffinesse, mit der der „Kleine“ gedemütigt wurde. Dass zwischenzeitlich die ehemals Großen zu den neuen Kleinen wurden, weil sie zunächst - in den 90er Jahren - den Sprung auf den CL-Zug verpasst hatten, gehört zur Geschichte des HSV, zur Geschichte von Hertha BSC, von Mönchengladbach, Frankfurt und einigen anderen. Der VfB Stuttgart hätte damals mit den Bayern und Dortmundern durchstarten können, wenn Trainer Daum nicht den Wechselfehler (4. Spieler) begangen hätte.

Perfekte Taktik - totale Neutralisierung

Im Folgenden geht es nicht mehr um den Vereinsfußball und das, was sich dort unter der zunehmenden Kommerzialisierung zeigt, sondern um den Verbandsfußball, konkret um Phänomene, die sich in den Spielen der Nationalmannschaften bei der Europameisterschaft 2024 in Deutschland gezeigt haben. Die im Vorwort hervorgehobene „halbe Geschichte“ scheint auf Verbandsebene auf den Kopf gestellt: „Es gibt keine ‚Kleinen‘ mehr, jeder kann jeden schlagen“, sagen die Experten seit rund einem Vierteljahrhundert. Und tatsächlich: Kleine Verbandsmannschaften wie Slowenien oder Georgien können die „Großen“ nicht nur ärgern, sondern sogar aus dem Turnier werfen. Offenbar ist es möglich geworden, durch taktische Vorgaben und - nennen wir es vorläufig - mannschaftliche Geschlossenheit (die die vom Trainerteam erdachte Taktik auf dem Platz in reale Taktik umsetzt) mit den „Großen“ mitzuhalten. Dieses „Mithalten“ führt dann tendenziell zu einem „Patt“ im Spiel, man neutralisiert sich gegenseitig. Die Neutralisierung wird durch eine disziplinierte Mannschaftsleistung herbeigeführt, d.h. dass jeder einzelne Spieler seine Aufgabe in der Kette, in der er sich bewegt und in die seine Rolle eingeschrieben ist, intellektuell und konditionell umsetzen kann. Die Ketten müssen sich bewegen, sie müssen kompakt stehen, und die Ketten müssen Möglichkeiten für individuelle Aktionen zulassen, die über die Logik der Kette selbst hinausgehen: Es wird versucht, „geplante Ausreißer“, also „freie Radikale“ zuzulassen, um einmal, zweimal in 90 Minuten diesen einen Laufweg zu ermöglichen, der zum Torerfolg führen kann. Alles andere im Spiel, was zum Torerfolg führt, ist zu 98 Prozent Zufall, was wiederum mit Sätzen wie "Fußball ist eben ein Fehlersport" uminterpretiert wird, besonders häufig von Spielern, die gerade geschlagen vom Platz gehen. 

eigenes Foto, Fanmarsch der Niederländer vor dem Halbfinale gegen England

Eigentore und Handelfmeter

Bei diesen Europameisterschaften gab es zwei Zufallsereignisse: A. Die scharfe Flanke bzw. der scharfe Schuss des Stürmers trifft irgendwie ein Körperteil eines Verteidigers und der Ball geht - als Eigentor gewertet - ins Tor. B. Gleiche Ausgangssituation, aber diesmal wird die Hand des Abwehrspielers getroffen und es gibt Strafstoß, der zu 90 Prozent zum Tor führt. Hinzu kommt, und das hat gerade dieses Turnier gezeigt, dass im Fall B ein weiterer Zufallsfaktor zuschlägt: Es kann nämlich vorkommen, dass ein Handspiel in einem Fall, in dem es nach der Regel eher nicht strafbar ist, und in einem anderen Fall, in dem es eher „klar“ nach strafbarem Handspiel aussieht, umgekehrt bewertet wird, so dass in einem Spiel, das in der Regel durch wenige erzielte Tore entschieden wird, der Faktor Zufall (von anderen auch als Begriffspaar „Glück und Pech“ beschrieben) eine zu große Bedeutung erlangt. Dieses Problem wird umso größer, je mehr „gleichwertige“ Mannschaften aufeinandertreffen, die sich tendenziell neutralisieren. Da es - siehe oben - kaum noch „Kleine“ gibt, breitet sich die Neutralisierungstendenz aus und es gibt nur noch wenige Spiele, die mit einer Tordifferenz von mehr als zwei Toren enden (bei dieser EM bisher sechs von 51). In dieser neuen Fußballwelt, in der sich fast alle neutralisieren, werden Siege der einen und Niederlagen der anderen eher zufällig.

Den Einfluss des Zufalls akzeptieren!

Man kann sicherlich versuchen, die so dargestellte Tendenz zu akzeptieren. Wäre dieser Text aber ein klarer Anti-Real-Madrid-Reflex, dann würde hier expressiv verbis die Position vertreten, dass schon das CL-Finale gezeigt hat, dass die bessere Mannschaft verloren hat und dass dies nicht der Sinn des Leistungssports sein kann. Der Matthäus-Effekt hat über das Momentum gesiegt, behaupte ich.

„Moment mal“, werden Sie als geneigte(r) Leser(in) sagen, kann man CL und EM24 mit der Kategorie Matthäus-Effekt vergleichen? Zeigt nicht vielmehr die Halbfinalbesetzung (Spanien, Frankreich, England, Niederlande), dass in sechs Spielen die Leistung und nicht der Zufall entscheidet? Und kann man den Matthäus-Effekt bei solchen Turnieren überhaupt reduzieren wollen? Will man die taktisch hochklassigen, aber an Stars armen Nationalmannschaften von Slowenien und Georgien auch im Halbfinale sehen? Und hat nicht zumindest Spanien gezeigt, dass der Einzug ins Finale ganz auf Leistung basiert (6 von 6 Spielen gewonnen)?

 

Ein Teil der Antwort muss wohl lauten: Ja, wir wollen genau die vier Mannschaften im Halbfinale sehen, die den ansehnlichsten und klar leistungsorientierten, begeisternden Fußball spielen. Und deshalb hätten wir statt England und Frankreich lieber die Schweiz oder mit Abstrichen die Österreicher, die Türken, die Portugiesen (wenn sie CR7 auf der Bank gelassen hätten) oder Deutschland im Halbfinale gesehen.

Wollen Sie mich, lieber Leser, jetzt noch fragen, ob ich keine Überraschungen bei einem Turnier mehr zulassen will? Nein, antworte ich, ein Turnier soll den Reiz des Unvorhersehbaren durch überraschende Siege der „Kleinen“ nicht nur behalten, sondern sogar noch steigern. Und der soll auf Leistung beruhen. Meine These ist, dass von den vier Halbfinalisten zweieinhalb Nationalmannschaften durch den Matthäus-Effekt dorthin gekommen sind. In den Halbfinals hätte man lieber die oben genannten gesehen. Nun werden Sie vielleicht einwenden, dass dies eine gewagte These ist, wenn man bedenkt, dass England seit 58 Jahren auf einen Titel wartet. Ja, werde ich antworten, aber der Effekt wirkt auch 58 Jahre und länger: England war schon einmal Weltmeister (wenn auch vielleicht nur wegen des sowjetischen Linienrichters, der es mit Westdeutschland nicht so hatte, schließlich hatte die BRD 1966 den Bruderstaat DDR völkerrechtlich nicht anerkannt - aber das wäre natürlich eine Verschwörungstheorie).

eigenes Foto, vor dem HF Niederlande-England in Dortmund

Das Finale: Gibt es eine Lösung?

Ja, wenn sich die Technik weiterentwickelt. Wir müssen den Zufall und den Matthäus-Effekt zurückdrängen, indem wir aus dem vermeintlichen Fehlersport wieder einen Sport mit Raffinesse machen. Der spanische Trainer Luis de la Fuente sagte in der Pressekonferenz am Samstag vor dem Finale: "Die Elf, die die wenigsten Fehler macht, wird gewinnen. Das treibt meine Argumentation leider auf die Spitze. Es ist zu vermuten, dass sich die Spanier - mit diesem Mindset - vor dem letzten Spiel des Turniers auf unansehnlichen Defensivfußball einstellen, um weniger Fehler zu machen. Sie folgen damit dem Mindset „Der Angriff (einer Mannschaft) gewinnt Spiele, die Verteidigung Titel“.  Mit oder in diesem Mindset wird abgewogen, wie hoch der Aufwand sein muss, um genau ein Tor mehr als der Gegner zu schießen. Und ja, es gilt: Der Aufwand, der betrieben werden muss, um - wie oben beschrieben - den einen „Künstler“ oder den einen Rambo, genannt „9er“, so genial ins Spiel zu bringen, dass er ein Tor erzielt, steigt natürlich mit jedem Gegentor: 1:0, 2:1, 3:2 ... 6:5.

 

Mein Lösungsvorschlag als Solutionist: Mehr Technik! Noch immer scheitern die schönsten Angriffsversuche daran, dass der berühmte „letzte Pass“ oder irgendein Pass vor dem letzten nicht beim Mitspieler, sondern beim Gegner ankommt. Deshalb brauchen wir vernetzte Spieler. Die Spieler müssen vernetzte, intelligente Geräte im Gehörgang tragen, mit denen sie vor und in den seltenen Situationen des Vorstoßes in den gegnerischen Strafraum miteinander kommunizieren können. „Ich laufe rechts an X vorbei, spiele den Ball entlang der 5m-Linie“, so oder so ähnlich könnte die Kommunikation zwischen den Spielern aussehen. Und das war‘s! Machen wir aus dem Fehlersport Fußball wieder einen attraktiven Könnersport mit mehr gelungener Raffinesse, der uns „mit der Zunge schnalzen lässt“ (Hansch / Beisenherz)!